29.02.2024
Die Natur- und Wildnispädagogik dient seit etwa einhundert Jahren dazu, Kindern und Jugendlichen den Wert und die Schönheit der natürlichen Welt nahezubringen. Doch wie steht es um die Wurzeln dieser pädagogischen Praxis? In einer Zeit, in der wir uns zunehmend bewusst werden, wie postkoloniale Strukturen unser Denken und Handeln beeinflussen, ist es unerlässlich, uns mit der Dekolonisierung der Naturpädagogik auseinanderzusetzen.
Als Pädagog*innen, die sich mit der Aufgabe befassen, jungeMenschen in der Natur zu begleiten, stehen wir vor der Herausforderung, ein Erbe anzuerkennen, das tief in den kolonialen Wurzeln unserer Praxis vorhanden ist. Das Streben nach wissenschaftlicher Erforschung und Ausbeutung von Menschen im Globalen Süden führte während der Kolonialzeit dazu, dass Menschen aus Gemeinschaften im Globalen Süden als „exotische“ Objekte betrachtet und stereotypisiert wurden. Große Teile der Natur- und Wildnispädagogik sind heute noch gefüllt mit dem Erbe dieses kolonialen und rassistischen Weltbildes, das es zu hinterfragen gilt. Doch nicht nur die Geschichte der Natur- und Wildnispädagogik ist von postkolonialem Erbe geprägt, sondern auch die Natur- und Draußen-Räume der Gegenwart. Die Natur sollte ein Ort sein, der allen Menschen offensteht, doch leider sind die Spuren des Ausschlusses und der Ungerechtigkeit auch hier allgegenwärtig. Rassistische Vorurteile und strukturelle Ungerechtigkeiten haben dazu geführt, dass bestimmte Gruppen von Menschen, insbesondere Schwarze Menschen, People of Color und Menschen mit Migrationsgeschichte, systematisch von Naturräumen ausgeschlossen wurden. Die Natur- und Wildnispädagogik braucht daher eine kritische Reflexion über die historischen Wurzeln dieser Praxis und eine aktive Auseinandersetzung mit rassistischen Strukturen in Natur- und Draußen-Räumen. Es geht darum, Wege zu finden, wie Naturpädagogik für alle Menschen zugänglich, inklusiv und gerecht gestaltet werden kann. In diesem Artikel wollen wir einen Blick auf die Herausforderungen und Möglichkeiten einer Dekolonisierung der Naturpädagogik werfen.
Das postkoloniale Erbe der Naturpädagogik anerkennen
Die koloniale Vergangenheit hat die Naturpädagogik geprägt und die Art, wie junge Menschen heute in naturpädagogischen Settings mit der Natur in Kontakt kommen, in vieler Hinsicht verzerrt. Die frühen Erforschungsreisen und Eroberungen des 19. Jahrhunderts dienten oft dazu, die „exotische“ Natur und die Indigenen Völker als Objekte der Neugierde und Unterwerfung zu betrachten. Auch die Wurzeln der deutschen Pfadfinder*innen- und Jugendverbände sind eng mit der deutschen Kolonialgeschichte verbunden. Ursprünglich im 20. Jahrhundert in Großbritannien gegründet, hatten sie das Ziel, junge Menschen durch Aktivitäten in der Natur zu fördern. Die Gründer des deutschen Pfadfinderbundes, Alexander Lion und Maximilian Bayer, waren Veteranen der Kolonialkriege im südlichen Afrika. Lion und Bayer sahen die Möglichkeit, ihre kolonialen Erfahrungen zu nutzen, um eine gespaltene Gesellschaft zu erneuern und zu vereinen. Unterstützt wurden sie von jungen Deutschen, die sich für das Exotische und Abenteuerliche begeisterten.
Die Entstehungsgeschichte der Pfadfinder*innen spiegelt sich bis heute in Ideen über „das Andere“, Abenteuer, Führung und Überleben in der Wildnis sowie in Rassismus und Überlegenheitsansprüchen wider und beeinflusst auch die Natur- und Wildnispädagogik. In naturpädagogischen Settings gibt es heute immer noch rassistische Lieder, Begriffe und Praktiken aus dieser Zeit. So gibt es deutsche Lieder mit rassistischem und kolonialem Ursprung, die Schwarze Menschen abwertend darstellen. Oft werden diese Lieder ohne kritische Reflexion oder Auseinandersetzung mit ihrem rassistischen Inhalt gesungen, was zur Normalisierung von Rassismus beiträgt. In einigen Natur- und Pfadfinderorganisationen gibt es das Problem des Blackfacings, bei dem Teilnehmende ihr Gesicht schwarz anmalen. Diese rassistische Praxis reproduziert Stereotype und exotisierende Darstellungen von Schwarzen Menschen. Ebenso werden in naturpädagogischen Kontexten traditionelle Gegenstände und Praktiken afrikanischer und lateinamerikanischer Länder verwendet, ohne respektvolle Wertschätzung für deren Ursprung und Bedeutung zu zeigen.
Eine zweite Linie der Übernahme kolonialer Stereotype in der Natur- und Wildnispädagogik ist die Verwendung von rassistischen „Indianer“-Stereotypen. Zuerst wurden „Indianer“[1]-spiele und -Folklore populär in der Freiluft- und Waldpädagogik des späten 19. Jahrhunderts, danach seit den 1920er-Jahren in der Abenteuer- und Erlebnispädagogik. Diese Praktiken werden bis heute fortgeführt. In Waldkindergärten zum Beispiel spielen Kinder verkleidet „Indianer“ und sitzen im „Tipi“. Insbesondere in den Waldkindergärten und auf Freizeiten mit Kindern gibt es „Ix“-Spiele und „Ix“-Folklore in der Abenteuer- und Erlebnis-Pädagogik. Obwohl Menschen aus First-Nations-Communities in Nordamerika seit vielen Jahren Kritik daran üben, werden in Deutschland und Europa weiterhin „Ixfeste“, „Ixcamps“ und „Ixfreizeiten“ organisiert und beworben. Die Stereotype über „Ix“ umfassen oft eine idealisierte Vorstellung von Naturverbundenheit, Weisheit und Spiritualität, die jedoch weit von der Realität der Indigenen Gemeinschaften entfernt ist und durch die kolonial-rassistische Stereotype fortgesetzt werden. Die fast 600 staatlich anerkannten Indigenen Nationen und Gemeinschaften Nordamerikas unterscheiden sich stark in Bezug auf ihre Lebensräume und kulturellen Praktiken. Dennoch werden sie auf stereotype Bilder reduziert, wie Lederkleidung mit Fransen, Stirnbänder mit Federn, Kriegsbemalung, Pfeil und Bogen, Tomahawks, wilde Tänze um das Feuer, „Ix-Geheul“, Kanus und Tipidörfer mit Marterpfahl. Durch die Übernahme solcher Stereotype in der Naturpädagogik werden Indigene Kulturen vereinfacht und als exotische Attraktionen präsentiert, anstatt sie als lebendige und komplexe Gemeinschaften mit einer eigenen Beziehung zur Natur zu sehen. Diese Beispiele verdeutlichen, wie das koloniale Erbe und rassistische Vorurteile Teil der gegenwärtigen Natur- und Wildnispädagogik sind. Nicht nur die Natur- und Wildnispädagogik ist jedoch von postkolonialen Strukturen geprägt, sondern auch die Natur- und Draußen-Räume selbst.
Draußenräume dekolonisieren
Parks, Wälder und andere Naturgebiete sind Orte, an denen sich Menschen mit der Natur verbinden und Ruhe finden können. Doch hinter der idyllischen Kulisse verbirgt sich eine bedrückende Realität: Schwarze Menschen, People of Color und Menschen mit Migrationsgeschichte werden systematisch von der Natur und naturpädagogischen Einstellungen ausgeschlossen. Die Ungerechtigkeit beginnt bereits in städtischen Gebieten, in denen Parks und grüne Oasen ungleich verteilt sind. Während privilegierte Viertel mit üppiger Natur gesegnet sind, leben benachteiligte Gemeinschaften oft in sogenannten naturarmen Gebieten. Diese strukturelle Ungleichheit im Zugang zu Naturräumen bedeutet, dass Menschen mit niedrigem Einkommen oder aus marginalisierten Gruppen weniger Möglichkeiten haben, die Natur zu erkunden und von ihren Vorteilen zu profitieren.
Doch der Ausschluss geht darüber hinaus. Rassistische Stereotype bestimmen immer noch das Bild von Menschen aus marginalisierten ethnischen Gruppen und führen zu deren Ausschluss aus Naturräumen. Sie werden als „nicht naturverbunden“ abgestempelt oder als „nicht dafür gemacht“, draußen in der Natur zu sein. Diese Vorurteile führen dazu, dass ihnen der Zugang zu Naturerfahrungen verwehrt wird oder dass ihre bloße Anwesenheit in Naturräumen als ungewöhnlich oder störend empfunden wird. Es sind dabei auch subtile kulturelle Normen, Traditionen und Praktiken in naturpädagogischen Settings, die für bestimmte Gruppen möglicherweise nicht vertraut oder ansprechend sind. Die mangelnde kulturelle Sensibilität und Akzeptanz von Vielfalt in naturpädagogischen Angeboten schränkt die Zugänglichkeit und Attraktivität für diese Gruppen ein. Leider endet der Ausschluss nicht dort. In einigen Fällen sehen sich Schwarze Menschen, People of Color und Menschen mit Migrationsgeschichte sogar direkter rassistischer Diskriminierung ausgesetzt, wenn sie Naturräume besuchen. Sie werden mit feindseligem Verhalten, verbalen Angriffen oder sogar gewalttätigen Übergriffen konfrontiert. Diese Erfahrungen schaffen eine Atmosphäre der Angst und Unsicherheit, die es ihnen erschwert, die Natur zu genießen oder sich frei in Draußen-Räumen zu bewegen.
Neben diesen Barrieren spiegelt sich auch in der Naturpädagogik und den Lehrmaterialien eine begrenzte Vielfalt wider. Die Geschichten, Bücher, Filme und anderen Ressourcen zeigen nur selten Menschen unterschiedlicher ethnischer Hintergründe und tragen so zur Aufrechterhaltung des rassistischen Ausschlusses in Draußen-Räumen bei.
Es ist an der Zeit, diesen Ausschluss anzugehen und eine inklusivere Natur- und Wildnispädagogik zu schaffen. Dazu gehört die Schaffung fairer Zugänge zu Naturräumen für alle Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft oder ihrem Einkommen.
Naturpädagogik dekolonisieren
Um den Zugang von Kindern und Jugendlichen aus marginalisierten Gruppen zur Natur zu verbessern, ist es wichtig, diese Barrieren anzuerkennen und die Naturpädagogik zu dekolonisieren. Die Dekolonisierung der Naturpädagogik erkennt die postkolonialen Muster in unseren Denk- und Handlungsweisen an und versucht diese aufzubrechen. Darüber hinaus versucht sie, Wege zu finden, die Vielfalt der Naturerfahrungen für alle zugänglich zu machen und rassistischen Ausschluss in Draußen-Räumen zu überwinden.
Leider existieren bisher in Deutschland und Europa kaum Ansätze und Initiativen, die dieses Ziel haben. Wir möchten unsere eigene Arbeit in diesem Bereich als Beispiele für Möglichkeiten vorstellen, hier aktiv zu werden: einmal in der direkten sozialpädagogischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen und einmal in der Ausbildung von Sozialarbeiter*innen im Bereich Naturpädagogik.
Anthony Owosekun hat EMPOCA gegründet, eine gemeinnützige Organisation, die deutschlandweit Outdoorprogramme für Schwarze Kinder und Jugendliche anbietet. Sie verbinden Empowerment mit erlebnis- und naturpädagogischen Gruppenerlebnissen, die von Schwarzen Teamer*innen begleitet werden. Diese Programme ermöglichen es den Kindern und Jugendlichen, eine Verbindung zur Natur herzustellen, die Schönheit der Natur zu erkunden, Fähigkeiten zu erlernen und neue Freund*innenschaften zu knüpfen. Erfahrene Schwarze Teamer*innen dienen als positive Vorbilder und schaffen eine sichere Umgebung, in der sich die Kinder und Jugendlichen frei ausdrücken können. EMPOCA fördert auch das persönliche Wachstum und ermächtigt Schwarze Kinder und Jugendliche, eine aktive Rolle beim Umweltschutz zu übernehmen, durch Partnerschaften und Projekte mit anderen Organisationen.
Yari Or bietet in der Ausbildung von Sozialarbeiter*innen Seminare an, in denen Student*innen das postkoloniale Erbe in der Naturpädagogik kritisch reflektieren und neue Wege entdecken, wie postmoderne und postmigrantische Menschen in Europa eine Verbindung zur Natur finden können, ohne in stereotype Vorstellungen zu verfallen und die veraltete postkoloniale Didaktik zu bemühen. Die Student*innen setzen sich mit dem kolonial-rassistischen Menschenbild auseinander und damit, wie Menschen im Globalen Norden von Indigenen Menschen im Globalen Süden über Natur und Naturverbindung lernen können – aber auf Augenhöhe. Sie erkunden Ideen wie Partnerschaften mit Indigenen Communities und den Aufbau persönlicher, verbindlicher Beziehungen mit Einzelpersonen. Die Teilnehmer*innen erforschen außerdem neue Praktiken für postmoderne und postmigrantische Menschen, die ihnen ermöglichen, die essenziellen Erfahrungen von Naturverbindung, Gemeinschaft und Ritual zu erleben, ohne in Folklorismus zu verfallen.
Eine dekolonisierende und inklusive Naturpädagogik, die Menschen aller Hintergründe einbezieht, schafft Raum für Wachstum, Empowerment und gegenseitiges Verständnis. Sie ermöglicht es uns, eine neue Generation von Naturfreund*innen und Umweltschützer*innen heranzuziehen, die in der Lage sind, die Herausforderungen unserer Zeit anzugehen und eine gerechtere und nachhaltigere Zukunft aufzubauen.
Literatur und Quellen
Or, Y. (2023): Plastikschamanen recyclen. Für eine dekolonisierende Naturpädagogik. in: Or, Y. (Hrsg.): Praxisbuch Transformation dekolonisieren. Ökosozialer Wandel in der sozialen und pädagogischen Praxis. Frankfurt: Beltz-Juventa, S. 77–92.
Owosekun, A. (2023): Schwarze Kinder und Jugendliche finden neue Pfade. Für eine antirassistische und empowernde Naturpädagogik. in: Or, Y. (Hrsg.): Praxisbuch Transformation dekolonisieren. Ökosozialer Wandel in der sozialen und pädagogischen Praxis. Frankfurt: Beltz-Juventa, S. 32–47.
[1] Auch wenn nicht alle Native Americans den Begriff „Indianer“ als diskriminierend empfinden und manche es sogar in der Selbstbezeichnung verwenden, gibt es doch viele Gruppen, die ihn als diskriminierend erfahren. Wir verwenden daher den nicht-diskriminierenden Begriff „Ix“ (gesprochen: „Iks“), wenn wir aufzeigen, wie dieser in der pädagogischen Praxis auftaucht.
Yari Or und Anthony Owosekun
Yari Or ist Professorin für Soziale Arbeit und Schreib- und Naturtherapeutin. Ihre Interessen liegen in der Entwicklung neuer Methoden für eine transformative Praxis in der Sozialen Arbeit. Als Aktivistin und Akademikerin setzt sie sich dafür ein, über innere und äußere Transformationsarbeit eine gerechte Zukunft zu schaffen.
Anthony Owosekun ist Sozialarbeiter und Erlebnispädagoge. Seit mehr als zehn Jahren begleitet er junge Menschen im Bildungsbereich. Er gründete 2019 die gemeinnützige Organisation EMPOCA, die Schwarze Kinder und Jugendliche mit der Natur verbindet, und ist seit 2022 Mitgründer von DECONSTRUCT, einer Online-Weiterbildungsplattform für die Rassismus-Sensibilisierung psychosozialer, pädagogischer und medizinischer Fachkräfte. Als Bildungsreferent führt er regelmäßig Fortbildungen zum Thema Rassismus für Pädagog*innen in Schulen, Jugendhilfe-und Freizeiteinrichtungen durch.
Dieser Artikel ist Teil unserer Handreichung Die extreme Rechte und Menschenfeindlichkeit in der Umweltbildung.