14.03.2024
Die vorherigen Artikel haben gezeigt, inwiefern umwelt- und naturpädagogische Angebote im deutschsprachigen Raum, mitunter ungewollt, Einfallstore dafür sein können, die Welt entlang von Ideologien der Ungleichwertigkeit zu erklären. Das spielt extrem rechten und demokratiefeindlichen Akteur*innen in die Hände und macht pädagogische Räume vor allen Dingen für diejenigen unsicher, die von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und Rechtsextremismus betroffen sind.
Insbesondere in Zeiten gesellschaftlicher Krisen bietet naturnahe Pädagogik aber auch das Potenzial, entlastende Angebote zu schaffen, die resilienzstärkend wirken können und in denen sich Menschen empowern (siehe dazu den Artikel von Or/Owosekun in dieser Handreichung; Bell 2023). Umso wichtiger ist es, ein paar Dinge in den Blick zu nehmen, um diese Räume verantwortungsvoll zu gestalten.
Im Folgenden werden einige Aspekte dargestellt, die vielschichtig auf die Frage eingehen, was bedacht werden kann, damit Naturerfahrungen und naturbasiertes Lernen gegen menschenfeindliche Ideologien helfen und angefangen wird, kolonialen Ballast abzuwerfen.
Wissen über gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, Rechtsextremismus und Kolonialismus
Wie wir gesehen haben, gibt es verschiedene rechte Akteur*innen, die sich in der Umwelt-, Natur- und Wildnispädagogik bewegen. Die Annahmen, naturnahe Pädagogik bewege sich in einem unpolitischen Raum und alle Praktiker*innen gingen automatisch von der Gleichwertigkeit aller Menschen aus, ist ein positives Vorurteil. Auch der Ursprung des deutschen Umwelt- und Naturschutzes ist bei Weitem nicht so progressiv, wie sein Ruf vielerorts ist (vgl. FARN 2018). Insofern ist es nicht verwunderlich, dass auch Menschen mit extrem rechten Einstellungen oder Anhänger*innen von Verschwörungserzählungen sich in der Umwelt- und Naturbildung wiederfinden. Sorge um Natur ist bis heute geprägt von einem herrschaftlichen Blick, der westliche Gesellschaften und ihre Ideen höher wertet. Das zeigt sich beispielsweise an internationalen Naturschutzmaßnahmen, Nationalparks und dem Umgang mit Indigener Bevölkerung (vgl. Survival International) oder den Interpretationen und Umsetzungen von BNE (siehe dazu den Beitrag von Postay/Wintzingerode in dieser Handreichung).
Pädagog*innen müssen mit dem Wissen über all das ausgestattet sein, um eine Sensibilität entwickeln zu können, rechte Aussagen und Agitationen zu erkennen. Um in der eigenen Praxis einen dekolonialen Blick einzunehmen, hilft es zusammenzudenken, was über die Natur und über andere Menschen und Gruppen vermittelt wird. Letztendlich geht es darum, die hierarchischen Strukturen von Denk-, Wissens-, Seins- und Handlungsprozessen anzuerkennen und aufzuheben.
Rassismus und andere menschenfeindliche Ideologien benennen
Wenn auch unintendiert, verlaufen viele naturpädagogische Angebote entlang von über Jahrhunderten eingeübten kolonialen Denkmustern: Indigene Menschen und deren Wissen werden der Natur zugeordnet, im Gegensatz zu als zivilisiert begriffenen westlichen Gesellschaften. Diese Erfindung wurde zu der Rechtfertigung von Vertreibung, Versklavung und Mord genutzt, indem BIPoC (Black, Indigenous, and People of Color) ihre Daseinsberechtigung abgesprochen wurden. Das wirkt bis heute in Form von verinnerlichten rassistischen Bildern und Vorannahmen, die weiße Menschen an die Spitze allen Lebens setzen und als unausgesprochenen Standard von Gesellschaften annehmen.
Pädagog*innen haben die Aufgabe, diese Bilder zu identifizieren, Diskriminierungserfahrungen anzuerkennen und zu benennen. Das kann ganz unterschiedlich aussehen. Es kann sich um Situationen mit Teilnehmenden handeln, etwas, was eine*m unter Kolleg*innen begegnet. Vor allen Dingen betrifft es auch die eigenen Bilder im Kopf und automatisierte Verhaltens- und Wahrnehmungsweisen, die man selbst gar nicht bewusst auf dem Schirm hat. Hier können Weiterbildungen helfen.
Es empfiehlt sich, Diskriminierung möglichst präventiv zu thematisieren. Das würde bedeuten, dass sich die verschiedenen Formen der Naturpädagogik selbst mit ihren Anschlussfähigkeiten nach rechts auseinandersetzen, diesen Prozess auch Teilnehmenden transparent zugänglich machen und in Naturerfahrungsangebote integrieren, um ein verantwortungsvolles Handeln allen zu ermöglichen.
Das Bedürfnis nach Naturerfahrung verantwortungsvoll anerkennen
Der Gegenüberstellung von Natürlichkeit und Zivilisation wohnt noch eine andere Facette inne, nämlich der Versuch, bestehende Verhältnisse umzukehren: Indigenen Menschen und ihrem Wissen wird ein erhöhter, weil (vermeintlich) naturverbundener Status des „Edlen Wilden“ zugeschrieben, der reale Herrschaftsverhältnisse negiert. Plötzlich scheint der weiße Naturpädagoge der Unterlegene zu sein, der entfremdet von der Natur und spirituell entwurzelt hilflos auf die mystifizierten Praktiken von Menschen aus dem Globalen Süden angewiesen ist. Eine radikale Wertschätzung und Anerkennung Indigenen Wissens würde bedeuten, grundsätzlich neue Umgangsformen mit der Welt zu lernen (siehe dazu den Beitrag von Postay/Wintzingerode in dieser Handreichung).1 Das steht im Widerspruch zu einer Konsumhaltung, in der nach Belieben einzelne Indigene Praktiken an- und abgelegt und mit eigenen Bedeutungen und Interpretationen versehen werden.
Festzustellen ist: Offenbar gibt es ein großes Bedürfnis nach körperlichen und emotionalen Naturerfahrungen bei gleichzeitiger Ratlosigkeit, wie das Ganze zu bewerkstelligen ist, ohne sich der kolonialen Trickkiste zu bedienen. Um Möglichkeiten verantwortungsvoller Naturerfahrungen auszuloten, gilt es, gesellschaftliche Kontexte und Lebenslagen zu berücksichtigen. Und letztendlich geht es auch darum, ganz neue Praktiken der Naturverbindung zu entwickeln.
Sitting with the mess: Gesellschaftliche Verhältnisse einladen
In Zeiten von Krieg und Krisen fühlt sich für viele Menschen die ohnehin schon komplexe Welt unsicherer und bedrohlicher an. Naturerfahrungen können eine Strategie sein, mit Angst und Unsicherheit stärkend umzugehen. Das gilt sowohl für Erwachsene als auch insbesondere für Heranwachsende, bei denen sich Individualisierungsprozesse im Spannungsfeld von kapitalistischen Möglichkeitsversprechen und globalen Krisen bewegen.
Naturpädagog*innen könnten Räume schaffen, in denen gesellschaftliche Anforderungen und Überforderungen anerkannt und thematisiert werden können. Erfahrungen in der Natur und mit dem eigenen Körper können dabei unterstützen, gerade weil sie mehr als nur kognitives Denken adressieren und es Platz für Emotionen geben kann.
Der entscheidende Punkt dabei ist, nicht zu versuchen, mit vereinfachten Ideen über Menschengruppen, mit Geschlechterbildern oder mittels Verschwörungserzählungen einen schnellen Ausweg aus der Misere anzubieten, sondern die Komplexität von Gesellschaft anzuerkennen und zuzumuten – auch mit den dazugehörigen Emotionen. Wünsche nach Solidarität und Verbundenheit können genau hier ihren Platz finden, statt sich kollektiv auf vermeintliche germanische Vorfahren zu besinnen, über die zuvor eine völkische Schablone gelegt wurde.2
Neue Wege gehen: Der Abschied von einer unpolitischen „Authentizität“
Die vorliegende Handreichung macht stark, Naturpädagogik und ihre verschiedenen Ausprägungen nicht als von gesellschaftlichen Prägungen losgelöstes Terrain zu begreifen. Denn dieser Trugschluss passiert auf Kosten von BIPoC, Jüd*innen, queeren Menschen und dem Globalen Süden. Naturpädagogische Angebote werden so ihrem eigenen Selbstanspruch nicht gerecht.
Hinter der Annahme, eine neutrale Position innezuhaben, könnte stehen, dass, gerade weil es bei Naturerfahrungen nicht nur um kognitive Beschäftigung geht, sondern Menschen sich „ganzheitlich“, körperlich, emotional in und mit der Natur auseinandersetzen, das Ganze losgelöst von gesellschaftlichen Verhältnissen geschieht. Manchmal gibt es beispielsweise die Vorstellung, dass, wenn man sich in der Natur bewegt, die dortigen Erlebnisse – zum Beispiel Gruppendynamiken oder Verhaltensweisen – besonders „authentisch“ oder „natürlich“ seien und auf irgendeinen allgemeingültigen, ursprünglichen Zustand hinweisen würden, dieser sich automatisch zeige. Dann wird zum Beispiel gedeutet, dass Jungen eher zu der einen Verhaltensweise neigten und Mädchen zu einer anderen. Diese pauschale Interpretation verkennt die Vielfältigkeit von gelebten Geschlechtern. Komplexität einzuladen, bedeutet auch, für Geschlechtervielfalt sensibilisiert zu sein und zu sensibilisieren. Die Idee von „echten Männern“ und „richtigen Frauen“ verfängt bis heute in der gesamten Gesellschaft und dient als Scharnier nach rechts. Ein aktuelles Feindbild rechter Agitationen sind LGBTIQ* (Lesbian, Gay, Bisexual, Trans*, Inter*, Queer) Personen, denen ihre Existenzberechtigung darüber abgesprochen wird, dass sie als „unnatürlich“ beschrieben werden.
Naturerfahrungsangebote müssten sensibilisiert dafür sein, an welchen Stellen die Eindrücklichkeit des unmittelbaren Erlebens von Naturverbundenheit dazu verleitet, bestimmte Körper und Geschlechter ursprünglicher oder natürlicher als andere wahrzunehmen (siehe dazu den Beitrag von Hennig in dieser Handreichung; Bell 2019).
Professionalität bedeutet, die eigenen Leerstellen und erlernten Bilder in der pädagogischen Praxis kritisch auf dem Schirm zu haben und, wider dem verständlichen Bedürfnis nach Einfachheit und Vertrautheit, eine neugierige Offenheit einzuladen.
Es soll also nicht „alles verboten werden“, sondern der Blick wird verantwortungsvoll geweitet, um Naturerfahrungen zu gestalten, die rassismus- und antisemitismuskritisch sowie vielfaltssensibel sind und die mit Indigenem Wissen respektvoll umgehen. Das beinhaltet in der Tat, sich von diskriminierenden Aspekten zu verabschieden und Vorannahmen zu verlernen. Das wiederum braucht Übung. Umso mehr sind Weiterbildungen, Supervisionen und kollegiale Fallberatungen zu empfehlen. Die Entwicklung von Leitbildern und Qualitätsstandards können eine kontinuierliche Arbeit unterstützen. Diese Handreichung leistet einen Beitrag dazu.
Literatur und Quellen
Bell, R. (2019): Abenteuer- & Erlebnispädagogik und geschlechterreflektierte Neonazismusprävention.
Bell, R. (2023): Rechtsextremismus im Umwelt- und Naturschutz. Multiplikator*innenschulungen zu Resilienz und Sensibilisierung. in: Wochenschau Verlag (Hrsg.): Autoritäre Versuchung. Journal für politische Bildung, 3/23, Frankfurt/M, S. 42–45.
FARN (2018): Rechtsextreme Ideologien im Natur- und Umweltschutz. Eine Handreichung. Online: https://www.nf-farn.de/system/files/documents/handreichung1_farn_fuer_we...
Chehata, Y./Jagusch, B. (Hrsg.) (2023): Empowerment und Powersharing. Ankerpunkte – Positionierungen – Arenen.Frankfurt: Beltz-Juventa.
Menakem, R. (2021): My grandmother’s Hands. Racialized Trauma and the Pathway to Mending Our Hearts and Bodies. New York: Penguin Random House.
Mitchell, S. (2018): Sacred Instructions – Indigenous Wisdom for Living Spirit-Based Change. Berkeley, North Atlantic Books.
Or, Y. (2023): Plastikschamanen recyceln. Für eine Dekolonisierung der Naturpädagogik. in: Or, Y. (Hrsg.): Praxisbuch Transformation dekolonisieren. Ökosozialer Wandel in der sozialen und pädagogischen Praxis. Frankfurt: Beltz-Juventa, S. 77–92.
Penniman, L. (2023): Black Earth Wisdom. Soulful Conversations with Black Environmentalists. New York: HarperCollins.
Survival International (o. J.): Naturschutz dekolonisieren. Online: https://www.survivalinternational.de/kolonialer-naturschutz
Thomas, L. (2022): The intersectional environmentalist. How to Dismantle Systems of Oppression to Protect People +Planet. New York, Boston, London: Voracious / Little, Brown and Company.
Yunkaporta, T. (2021): Sand Talk. How Indigenous Thinking Can Save the World. New York: Penguin Random House.
[1] Das aktuelle Wirtschaftssystem beruht beispielsweise auf der Annahme, unendlichen Zugriff auf natürliche Ressourcen zu haben.
[2] Das Bedürfnis nach Naturerfahrung und „Rückverbindung“ trifft im deutschen, nichtjüdischen Kontext relativ zügig auf die Themen Schuld und Scham. Kurz gesagt: Es ist attraktiver, sich mit Karl-Mays-Erzählungen zu identifizieren, als die eigene Geschichtlichkeit zu betrachten, die eine*n in den meisten Fällen zu allererst mit der eigenen Nazivergangenheit konfrontiert. Die Naturpädagogik hat insbesondere hier die Aufgabe, sich nicht als apolitisches Feld zu begreifen, Antisemitismus zu thematisieren und Betroffenenperspektiven ernst zu nehmen. Offen ist die Frage, inwiefern Naturerfahrungen zu der biografischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Shoa beitragen können, sich die Mechanismen zu vergegenwärtigen, wie Familienlegenden und tradiertes Schweigen nicht-jüdischer Menschen eine bewusste und kritische Auseinandersetzung mit der Rolle der eigenen Familie im Nationalsozialismus verhindern. Denn das ist Voraussetzung dafür, sich zu Geschichte zu positionieren und Formen des Erinnerns zu finden, sodass Menschen Verantwortung für Gegenwart und Zukunft übernehmen.
Robin Bell
Robin Bell ist Sprachwissenschaftler*in und Pädagog*in und arbeitet als Bildungsreferent*in bei der Fachstelle Radikalisierungsprävention und Engagement im Naturschutz (FARN).
Dieser Artikel ist Teil unserer Handreichung Die extreme Rechte und Menschenfeindlichkeit in der Umweltbildung.