Die Interkulturelle Öffnung der Jugendverbandsarbeit folgt einer doppelten Strategie:
- Es geht zum einen um die Unterstützung der Interkulturellen Öffnung der etablierten Jugendverbände sowie der Jugendringe.
- Es geht zum anderen um die Unterstützung des Strukturaufbaus und der Arbeit von Migrant*innenjugendselbstorganisationen.
Beide Seiten stehen nebeneinander und ergänzen sich – in Tandemansätzen (und natürlich auch im jugendverbandlichen Alltag) können sie sich zudem überschneiden.
In der Diskussion über die Interkulturelle Öffnung der Jugendverbandsarbeit haben sich der Begriff „Vereine Jugendlicher mit Migrationshintergrund“ beziehungsweise „Vereinigungen junger Menschen mit Migrationshintergrund “ und der in diesem Artikel verwendete Begriff „Migrant*innenjugendselbstorganisation“ herausgebildet. Sie werden weitgehend synonym verwendet.
Die Öffnung von Jugendumweltverbänden
In so ziemlich jedem Verband gibt es identitätsstiftende Eigenheiten – das kann sogar innerhalb der Mehrheitsgesellschaft manchmal von außen etwas überraschend wirken. Das kann bei Kleidungsstilen beginnen, die, obwohl von innen als vielfältig wahrgenommen, von außen einheitlich wirken können, mag über Ernährungsgewohnheiten – wie ein hoher Anteil oder ausschließlich vegetarische und vegane Verpflegung auf Veranstaltungen eines Jugendumweltverbandes – weitergehen und wird bei kämpferisch oder radikal wirkenden Sprüchen und Aufklebern noch nicht enden.
Wenn die Wahrnehmung und Bewertung dieser Eindrücke schon bei lange hier lebenden Menschen höchst unterschiedlich ausgeprägt ist, so bringen sie doch immerhin einiges Orientierungswissen mit, um sich eine vielfältige Verbandslandschaft zu erschließen. Wie wirken wir als Verband aber nun auf noch nicht so lange in Deutschland lebende junge Menschen aus ganz unterschiedlichen Herkunftsländern? Wie viel für uns Selbstverständliches müssen wir erklären oder erläutern? Was essen wir? Wie gehen Mädchen und Jungen bei uns miteinander um? Welche Spiele spielen wir? Welche Bedeutung hat Religion (oder Religionskritik) in unserer Arbeit? Was bedeutet es, dass wir uns auch als ein politischer Jugendverband verstehen und uns zu umweltpolitischen Fragen äußern?
Es geht nicht darum, diese Eigenheiten eines Verbandes zu schleifen, sondern es geht um eine Reflexion der eigenen Wirkung, der eigenen Ausstrahlung, des eigenen Images – in kultureller, ästhetischer, sozialer und milieuspezifischer Hinsicht. Dies muss nicht notwendigerweise in der Absicht erfolgen, daran etwas zu verändern (obwohl auch das gelegentlich mal angesagt sein kann). Eher geht es darum, die wichtigen Erstkontakte mit Noch-Nicht-Mitgliedern bewusster zu gestalten. Es ist also notwendig zu reflektieren, welche Signale ein Verband eigentlich bewusst und vor allem welche er unbewusst aussendet und welchen Eindruck er auf Menschen macht, die die Verbandslandschaft nicht kennen. Die verbandlichen Eigenheiten machen den Jugendverband aus, wir sollten sie nicht verstecken, aber wir sollten sie vermitteln und erläutern können – selbstbewusst, aber auch offen dafür, was auf Außenstehende auf den ersten Blick irritierend wirken kann.
Die Zahl junger Menschen nimmt zu, denen sowohl das Konzept „Jugendverband“ als auch die Ausrichtung eines bestimmten Jugendverbands erklärt werden muss. Und hier bringt uns das Stichwort Inklusion, das zunehmend über den Bereich von Menschen mit Behinderung hinaus verwendet wird, nicht nur an die Jugendlichen mit Migrationshintergrund heran, sondern auch an viele andere bisher unterrepräsentierte Schichten oder Milieus von jungen Menschen, für die die Verbandslandschaft möglicherweise ebenso unbekanntes Terrain ist, zu dem sie keinen eigenen Zugang haben und ihn auch nicht von selbst entwickeln werden.
Überlegungen zur Interkulturellen Öffnung können also ein guter Anstoß sein, darüber nachzudenken, wie der Zugang zum Verband auch darüber hinaus für die wachsende Gruppe der jungen Menschen gestaltet werden kann, die keine konkrete Vorstellung vom jeweiligen Verband haben. Damit kann eine Interkulturelle oder Rassismuskritische Öffnung ein Anstoß zur Organisationsentwicklung auch über die Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund hinaus sein – Inklusion in einem weiteren Sinne.
Die Ökologisierung von Migrant*innenjugendselbstorganisationen
Ein zweiter Weg, mit dessen Hilfe sich junge Menschen mit Migrationshintergrund stärker mit ökologischen Fragen auseinandersetzen können, ist eine Thematisierung ökologischer Fragen und Gestaltung ökologischer Aktivitäten in Migrant*innenjugendselbstorganisationen. Dies kann entweder aus eigenem Antrieb oder in Kooperation mit Jugendumweltverbänden oder Expert*innen erfolgen. Für diese Form der Kooperation bieten sich Tandemprojekte besonders an, da in ihnen beispielsweise die ökologische Fachkompetenz eines Jugendumweltverbandes mit dem Zugang einer Migrant*innenjugendselbstorganisation zur Zielgruppe kombiniert werden kann. Damit derartige Projekte aber ohne einen missionarischen Beigeschmack daherkommen, ist es notwendig, im Projektdesign Begegnungen und intensivere Austauschmöglichkeiten zwischen beiden Verbänden über das konkrete ökologische Einzelthema hinaus zu ermöglichen und für Augenhöhe zwischen beiden Projektpartnern zu sorgen, gegebenenfalls auch durch eine stärkere Berücksichtigung einer strukturell schlechter gestellten Migrant*innenjugendselbstorganisation im Finanzplan eines derartigen Projekts.
Migrant*innenjugendselbstorganisationen sind keine Parallelgesellschaft, sondern Teil der deutschen Zivilgesellschaft
Der Vorwurf oder die Unterstellung, Migrant*innenjugendselbstorganisationen seien der Anfang oder das Abbild von migrantischen Parallelgesellschaften, spielte im Sport bereits bei der Diskussion über sogenannte Migrant*innensportvereine eine Rolle. So unterstellten manche Verbandsfunktionär*innen beispielsweise, „türkische“ Sportvereine in Deutschland seien Ausdruck einer Parallelgesellschaft – schließlich stünden die vorhandenen Sportvereine ja allen offen. Was formal richtig sein mochte, wurde beim nächsten Sportfest mit Bier und Bratwurst vom Schwein dann jedoch gleich widerlegt. Längst haben denn auch der Deutsche Olympische Sportbund und die Fachverbände begonnen, das Bedürfnis der Gesellung und des Sporttreibens in Migrant*innensportvereinen (ebenso wie in schwulen und/oder lesbischen Sportvereinen) ernst zu nehmen und wertzuschätzen.
Migrant*innenjugendselbstorganisationen ermöglichen nämlich – ebenso wie Migrant*innensportvereine – vielen Jugendlichen erst Zugänge zur deutschen Zivilgesellschaft: Über Empowerment, über Mitgliedschaften in Jugendringen und Sportverbänden, über die Teilnahme an Veranstaltungen und die Mitwirkung in Projekten lernen junge Menschen mit Migrationshintergrund die attraktiven Angebote der Kinder- und Jugendhilfe schätzen und/oder entwickeln sie selbst. Migrant*innenjugendselbstorganisationen stärken den Organisationsgrad junger Menschen in Bezug auf ehrenamtliches Engagement und die Mitwirkung in der Zivilgesellschaft. Ebenso wie viele Jugendverbände oder Sportvereine der Mehrheitsgesellschaft spiegeln sie die Pluralität der deutschen Gesellschaft wider und haben nicht den Anspruch, alle Bereiche der Gesellschaft oder alle Gruppen junger Menschen abzudecken beziehungsweise zu erreichen. So verwundert es nicht, dass viele der Akteur*innen in migrantischen Selbstorganisationen daneben auch in Verbänden und Parteien der Mehrheitsgesellschaft aktiv sind und im Rahmen derartiger Mehrfachmitgliedschaften ganz selbstverständlich einige Aspekte ihrer Identität in einer migrantischen Selbstorganisation, andere in einer Organisation der Mehrheitsgesellschaft besonders verwirklichen.
Was kommt nach Interkultureller Öffnung?
In der Diskussion um Diversitätsbewusste Bildungsarbeit und Vielfalt ebenso wie unter der Überschrift „Inklusion“ (im erweiterten Sinne des Begriffes über Menschen mit Behinderungen hinaus) deutet sich eine umfassendere Perspektive an, in der die Trennlinie „mit und ohne Migrationshintergrund“ beziehungsweise „ethnische Herkunft“ neben andere Trennlinien (zum Beispiel Geschlecht, Alter, sexuelle Orientierung, körperliche Verfasstheit, Sozialstatus etc.) tritt und sich die Unterscheidungen überkreuzen und vermischen – auch im Sinne von Mehrfachbenachteiligungen oder ‑diskriminierungen. Die Perspektive des Betroffenseins von Rassismus sollte natürlich nicht aus dem Blick geraten. Ansonsten trägt dieser breitere Blick auf unsere gesellschaftlichen Realitäten zu einer willkommenen Entspannung der fortwährenden Aufteilung junger Menschen in Menschen mit und ohne Migrationshintergrund bei, solange er Machtverhältnisse und Diskriminierungen nicht ausblendet.
Mit dem Begriff „Rassismuskritische Öffnung“, der auch beim Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit e. V. (IDA) zunehmend Verwendung findet, wird stärker als beim Begriff „Interkulturelle Öffnung“ der Fokus auf die Beseitigung von Zugangsbarrieren und faktischen Ausschlüssen gesetzt. Auch er wirft den Blick auf Rassismus und Diskriminierung – allerdings stärker im institutionellen Sinne. Unter der Überschrift „Rassismuskritische Öffnung“ werden ganze Organisationen und Verbände auf den Prüfstand gestellt und der Blick nicht nur auf eine bisher unterdurchschnittlich erreichte Zielgruppe geworfen.
Ein Wort zum Schluss
Die Zuweisung des Begriffs beziehungsweise der Fremddefinition „mit Migrationshintergrund“ erfolgt nie neutral und folgenlos, sie erweckt den Eindruck von zwei getrennten Gruppen mit großer innerer Homogenität auf beiden Seiten – das entspricht nicht der Realität und übergeht die Differenzen innerhalb beider Gruppen.
Auch der Vergleich des Anteils junger Menschen mit Migrationshintergrund in der Gesamtbevölkerung mit dem in einzelnen Jugendverbänden ist wenig aussagekräftig – zum einen, weil beide beschriebenen Wege Interkultureller Öffnung nebeneinander bestehen, zum anderen, weil beide Wege in Bezug auf einzelne Personen auch miteinander verwoben sind. So kann der Landesvorsitzende einer Migrant*innenjugendselbstorganisation beispielsweise gleichzeitig Mitglied der Grünen Jugend oder der BUNDjugend sein.
Die zunehmenden Abwehrreaktionen der so Benannten gegenüber dem Begriff „Menschen mit Migrationshintergrund“ verdeutlichen, dass er neben der Erleichterung der Aufdeckung, statistischen Nachweisbarkeit und Benennung von Diskriminierungserfahrungen und Rassismus auch eine stigmatisierende Wirkung haben kann.
Andererseits spricht förderpolitisch und jugendpolitisch strukturell viel dafür, auch die Ebene des Migrationshintergrundes weiter explizit zu beleuchten und zu benennen, vor allem wenn es um die auch strukturelle Förderung von Migrant*innenjugendselbstorganisationen geht. Was auf der individuellen Ebene mit Diversität und Minorisierung besser zu fassen sein mag, kann auf der strukturellen Ebene verwässern und auf der jugendpolitischen Ebene förderpolitisch kontraproduktiv sein. Es geht also eher darum einen professionellen Umgang mit diesen Widersprüchen zwischen sinnvoller sprachlicher Praxis in pädagogischen Kontexten und einer anderen sprachlichen Praxis in förderpolitischen Kontexten, Projektanträgen und unter soziologischen Perspektiven zu entwickeln.
Literatur
Drücker, Ansgar (Hrsg.). (2013): Die Interkulturelle Öffnung der Jugendverbandsarbeit. Bestandsaufnahme und Erfahrungen aus Projekten. Düsseldorf: IDA e. V. Verfügbar unter www.idaev.de/fileadmin/user_upload/pdf/publikationen/Reader/2013_IDA_Interkulturelle_Oeffnung.pdf.
Ansgar Drücker
Der Autor ist Geschäftsführer des Informations- und Dokumentationszentrums für Antirassismusarbeit e. V. (IDA). Er ist Diplom-Geograf und war zuvor lange bei der Naturfreundejugend Deutschlands tätig. Seit 2017 ist er Mitglied des Fachbeirats der Fachstelle Radikalisierungsprävention und Engagement im Naturschutz (FARN).
Dieser Text ist eine Weiterentwicklung des Artikels „Die Interkulturelle Öffnung der Jugendverbandsarbeit – eine Einführung“ des Autors in der von ihm herausgegebenen IDA-Publikation „Interkulturelle Öffnung der Jugendverbandsarbeit – Bestandsaufnahme und Erfahrungen aus Projekten“.