Die Menschheit ist in den letzten Jahrzehnten zur stärksten Naturgewalt aufgestiegen, sie überschreitet planetarische Grenzen und hinterlässt immer tiefere ökologische Fußabdrücke. Die Globalisierung und die permanente Beschleunigung der Eingriffe in die natürlichen Lebensgrundlagen bleiben nicht unbeantwortet, die Natur revoltiert gegen die Menschen, das Erdsystem gerät aus dem Gleichgewicht. Die alte Erde, die zur Heimat der Menschen wurde, existiert nicht mehr. Das wirtschaftliche Wachstum, angetrieben von kurzfristigen Verwertungsinteressen, und der technische Fortschritt, der nur das immer Weiter, Schneller und Höher kennt, zerstören dabei nicht nur die Natur, sie machen auch ein Ende der menschlichen Zivilisation denkbar.
Heute leben wir in einer neuen geologischen Erdepoche, das Anthropozän oder die vom Menschen gemachte Erde. Das Holozän, jener gemäßigte Abschnitt der letzten rund 12.000 Jahre, in dem sich die menschliche Zivilisation entwickeln konnte, ist vorbei. Mit der Great Acceleration, der großen Beschleunigung des industriellen Kapitalismus ist es seit den 1950er-Jahren zu der maßgeblich vom Menschen geprägten Entwicklung unseres Planeten gekommen. Die Mehrheit der Wissenschaftler tendiert denn auch dazu, diese Zeit, in der es zu einem enormen Anstieg in der Nutzung von fossilen Brennstoffen, der Produktion von Plastik und anderen synthetischen Stoffen, dem Einsatz von Beton, der autogerechten Stadt und zu starken radioaktiven Fallouts kam, zum Beginn des Anthropozäns zu machen.
Der Vordenker des Anthropozän-Konzepts, der Nobelpreisträger für Chemie von 1995 Paul J. Crutzen, beschreibt diese neue Phase der Erdgeschichte als Geologie der Menschheit – Geology of Mankind. Anthropozän, das ist kein modischer Begriff, sondern eine Warnung von enormer Tragweite. Die wichtigste Erkenntnis ist: Naturverhältnisse sind immer auch Herrschaftsverhältnisse, die entweder grundlegend neu geordnet werden müssen oder es kommt zur Selbstvernichtung der menschlichen Zivilisation, weil die Erde bei dem technisch-ökonomischen Expansionsdrang nicht mehr mitspielt.
Crutzen erkannte den arroganten Irrtum, die Menschheit könne sich ihrer Zukunft gewiss sein, wenn sie an dem bisherigen „Weltmodell der Moderne“ festhalte. Die Natur ist in ihrer Begrenztheit und Verletzlichkeit der limitierende Faktor. Tatsächlich ist die anthropozentrische Krise eine Krise des dominierenden Weltmodells, auch wenn es bisher noch kein anderes gesellschaftliches System gab, auch nicht die kommunistischen oder die verschiedenen Dritten Wege, das nicht auch wachstumsfixiert war. Von daher muss Anthropozän als ein überwölbendes Dach für die gesamte Menschheit gesehen werden, das nicht etwa die gesellschaftlichen Widersprüche und Konflikte relativiert, sondern im Gegenteil weiter zuspitzt.
Wir leben im Zustand der „Grenzüberschreitungen“
Das Anthropozän-Konzept wird in erster Linie mit der vom Menschen verursachten Klimakrise begründet. Unbestritten ist der massenhafte Einsatz der fossilen Brennstoffe der stärkste Treiber der Erderwärmung, deren Nutzung in den Industriestaaten besonders hoch ist. Tatsächlich wird noch in diesem Jahrzehnt die Kohlendioxid-Konzentration in der Troposphäre, die heute 1,7 mal höher liegt als vor 100 Jahren, einen Wert von 430 ppm erreichen. Das bedeutet, dass eine Erwärmung um 1,5 Grad Celsius nicht mehr zu verhindern ist, auch wenn sich das aufgrund des längerfristigen Anpassungsmechanismus des Klimasystems erst zeitverzögert in seiner ganzen Tragweite zeigen wird. Damit verbunden sind weitreichende Verschiebungen in der Energiebilanz, Chemie und Dynamik der Atmosphäre. Es wird nicht nur wärmer, auch der „feuchte Treibhauseffekt“ entfaltet sich mit Starkregen, Überschwemmungen und Orkanen.
Kipppunkte im Erdsystem rücken schnell näher. Bei 1,8 Grad Celsius Erwärmung sterben die Korallenriffe, das zweitgrößte Öko-System der Erde, unwiderruflich ab. Die thermohalinen Strömungen des Atlantiks verschieben sich, immer häufiger sind Wetterextreme die Folgen vor allem in Mittelgebirgsregionen. In Afrika zieht sich das „Grüne Band“ weiter in Richtung Äquator zurück. Tropenwälder trocknen aus. Permafrostregionen tauen auf und setzen massenhaft Kohlenstoff frei. In der Folge beschleunigt sich die Klimakrise dramatisch.
Mit anderen Worten: Wir leben im Zustand der „Grenzüberschreitungen“, denn wir schaffen heute bereits „vollendete Tatsachen“, die erst künftig sichtbar werden und kurzfristig nicht mehr zu stoppen sind. Hier zeigt sich ein grundlegender Konflikt mit dem vorherrschenden Regime der Kurzfristigkeit, das den globalen Kapitalismus prägt. Ein zweiter ist, dass die Klimakrise zwar ein globales Problem ist, sich aber noch lange Zeit sozial, räumlich und zeitlich höchst ungerecht auswirkt. Erbitterte Verteilungskonflikte ziehen herauf. Die Hauptverursacher werden in der Regel nicht die Hauptbetroffenen sein. Afrika beispielsweise, das vom Zusammenbruch landwirtschaftlicher Systeme besonders betroffen sein wird, ist für rund 3 Prozent der Treibhausgasemissionen verantwortlich, obwohl 18 Prozent der Weltbevölkerung auf dem Kontinent leben. Das reichste Prozent der Menschen verursacht dagegen 15 Prozent der klimaschädlichen Gase. Nicht wenige von ihnen werden versuchen, sich in grünen Oasen des Wohlstands von der unwirtlich werdenden Welt abzuschotten. Von daher ist Klimaschutz auch eine Frage des Friedens.
Das Anthropozän-Konzept zwingt uns, Grundfragen der unvollendeten Moderne zu überprüfen und neu zu bewerten. Auch das gehört zu den Prinzipien von Aufklärung, Freiheit, Vernunft und Verantwortung, den Grundprinzipien der europäischen Moderne. Der zu Recht kritisierte Dualismus Mensch – Natur hat seine Wurzeln auch in der europäischen Ideengeschichte des Fortschritts, dessen Folie die aus der Antike vertraute Vorstellung von einer „Stufenleiter des Seins“ ist. Danach werden die Lebewesen von einfachsten bis zu den komplexesten Erscheinungen geordnet. Das zeitlich Spätere ist danach immer auch das Höhere. Dieser Glaube an die Vorwärtsentwicklung der Zivilisation entstand im europäischen Rationalismus und wurde mit der Emanzipation des Menschen und der Orientierung auf die Naturwissenschaften begründet. Die Ausrichtung auf die Linearität wurde zur Grundlage des Fortschritts, gleichsam zu einer säkularisierten Heilsbotschaft.
Aufklärung und Befreiung standen im Zentrum der Ideen der europäischen Moderne, die nach dem dunklen Mittelalter die Epoche der Erleuchtung einleitete. Die Aufklärung wollte die Verhältnisse, so wie sie waren, nicht hinnehmen, sondern vor allem mit Hilfe der Naturwissenschaften sozialer und freiheitlicher gestalten. Dafür nahm die Idee der Emanzipation (der Befreiung) des Menschen den zentralen Stellenwert ein. Aufklärung wurde zur Hoffnung für eine Humanisierung der Gesellschaft, die Bändigung von Gewalt, eine Kultur der Anerkennung und die Beseitigung von Armut und Elend. Damit verbunden war das Ziel einer friedlichen Welt, in der sich alle gleich und frei begegnen und jeder nach seinen Vorstellungen ohne Diskriminierung leben sollte. Das war damals allerdings in erster Linie auf Europa bezogen.
Instrumentalisierung der Natur
Mit der Industriellen Revolution verengte sich die Sicht auf wirtschaftliches Wachstum und die massenhafte Entfaltung technischer Innovationen. Die ökologischen Folgen, die sich aus der Globalisierung der Umweltzerstörung ergeben, waren vor 200 und mehr Jahren noch nicht vorstellbar. René Descartes vertrat die These, dass der Mensch mittels der methodischen Anwendung von Wissenschaft und mathematischer Rationalität „maître et possesseur de la nature“ sei, sowohl um sich schützen zu können als auch um ihre Ressourcen hemmungslos zu nutzen. John Locke, der Ideengeber der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, sah „in der Negation der Natur den Weg zum Glück“. Die Natur wurde überwiegend instrumentell gesehen, ist aber in dieser falschen Form tief im Bewusstsein und in den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen verankert.
Durch die Radikalisierung des Verhältnisses Mensch und Natur entstand das falsche Verständnis von Umwelt statt Mitwelt, das in die heutige ökologische Krise geführt hat. Die Natur sollte – wie es bei dem Aufklärer und Hexenmeister (!) Francis Bacon („Wissen ist Macht“) heißt – auf die Folterbank der Experimente gespannt werden, um ihr ihre Geheimnisse zu entreißen.
Hier zeigt sich die Ambivalenz und Unvollkommenheit der europäischen Moderne. Ihre Grundlagen waren die Ideale der französischen Revolution, von Freiheit, Gleichheit, Solidarität, die britische Staatslehre und die deutsche Philosophie. Insgesamt war das nach Max Weber die „europäische Rationalität mit Weltbeherrschung“. Sie hat fundamentale Voraussetzungen für den Fortschritt der Gesellschaften geschaffen. Auch die sozialistische Bewegung ist ein „Kind“ der europäischen Moderne, sieht aber die Befreiung des Menschen erst durch eine Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft verwirklicht.
Auch in diesem Verständnis wird die europäische Moderne als unzureichend und unvollendet kritisiert, aber sie hat unbestritten hat sie wichtige Verbesserungen möglich gemacht. In ihrer Naturvergessenheit, ihrer männlichen Überhöhung und Dominanz mit totalen Machtansprüchen sowie ihrer Fixierung auf Europa beziehungsweise Neoeuropa zeigen sich schwerwiegende Fehler, Defizite und Überheblichkeiten. Wie Theodor Adorno und Max Horkheimer in der „Dialektik der Aufklärung“ eindringlich beschrieben haben, ist das Erbe des weißen Mannes wahrlich nicht nur positiv. Das Anthropozän-Konzept stellt dagegen zwei Fakten der unvollendeten Moderne deutlich heraus:
- Die Menschheit ist mit der Globalisierung der Umwelteingriffe an einen Punkt gekommen, an dem sie sich selbst vernichten kann.
- Nur wenn der Mensch zu radikalen Reformen fähig wird, kann er die Selbstvernichtung verhindern. Die Voraussetzungen dafür sind sowohl eine Befreiung von den technischökonomischen Zwängen als auch eine Weltinnenpolitik auf der Basis einer sozial-ökologischen Gestaltung der Transformation.
Anthropozän als Chance
In der Konsequenz kann eine Politik der Aufklärung und Vernunft nur der zweiten Feststellung folgen. Dann ist das Anthropozän die Chance für eine grundlegende Überarbeitung, die den Menschen zum sozialen und ökologischen Gestalter der Geschichte macht. Nach Crutzens Überzeugung geht das bei der globalen Herausforderung und Interdependenz der Klimakrise nur in globaler Verantwortung und in globaler Solidarität. Dafür muss sich unsere Zeit von wirtschaftlich-technischen Verwertungszwängen befreien. Das heißt, die Idee der Emanzipation muss sozial und ökologisch ausgelegt sein, lokal und regional, national und global. Für Rassismus, Nationalismus und Kolonialismus ist da kein Platz.
Das Anthropozän erfordert einen wissenschaftlich und reformpolitisch begründeten Weg in eine aufgeklärte Zukunft, die – wie der Humanist Erich Fromm gefordert hat – „weder Mangel noch Überfluss kennt“. Dabei geht es nicht um einzelne Forderungen, sondern um das Ziel, dem öffentlichen Wohl auf Dauer die Priorität vor individuellem Reichtum einzuräumen.
Literatur
Crutzen, Paul J.: Geology of Mankind, in: Nature, 23/2002.
Crutzen, Paul J./Müller, Michael (Hrsg.) (2020): Das Anthropozän. Schlüsseltexte des Nobelpreisträgers für das neue Erdzeitalter. München: oekom.
Crutzen, Paul J./Stoermer, Eugene F.: The Anthropocene, in: Global Change Newsletter, No. 41, May 2000, S. 17–18. Online unter http://www.igbp.net/download/18.316f18321323470177580001401/1376383088452/NL41.pdf
Rockström, Johan et al.: Planetary Boundaries. Exploring the Safe Operating Space of Humanity, in: Ecology and Society, 2/2019, S. 1–30.
Michael Müller
Michael Müller ist Bundesvorsitzender der NaturFreunde Deutschlands und war von 2005 bis 2009 Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Von April 2014 bis Juli 2016 war er einer der beiden Vorsitzenden der Kommission Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe.
Der Artikel ist Teil der Broschüre Die extreme Rechte zwischen Klimawandelleugnung und Klimanationalismus.