
Nachhaltigkeit und Umweltschutz sind seit den Protesten am Hambacher Wald und durch die „Fridays for Future“-Streiks endlich wieder in aller Munde. Wer den Kopf einschaltet und ein wenig Verantwortungsgefühl besitzt, muss zu der Erkenntnis kommen: So wie bisher kann es wirklich nicht weitergehen! Was aber nun genau tun? Was bedeutet der Slogan „System change, not climate change“ in der gelebten Praxis, im Alltag?
Wie aus dem Nichts flatterte mir kurz vor dem Ende meines Studiums eine E-Mail ins Postfach, in der die Herausgeber*innen des Buches „eurotopia“ nach helfenden Händen und Köpfen für die neue Ausgabe suchten. „eurotopia“ ist das größte Verzeichnis für Ökodörfer und Gemeinschaften in Europa, dessen letzte Ausgaben mir in den vergangenen Jahren immer besonders dann geholfen haben, wenn bei mir mal wieder ein ausgeprägter Stadt-Koller aufzog oder ich fluchend und angekratzt von Demos gegen Kohle/Nazis/TTIP/etc. nach Hause kam: Ich fand es irgendwie beruhigend zu sehen, dass es Orte gibt, an denen es scheinbar auch etwas anders geht. Die E-Mail enthielt ein tolles Angebot: Ein bis zwei Wochen am neuen Buch mitarbeiten, als Gegenleistung Kost und Logis und die Möglichkeit, das Leben im Ökodorf Sieben Linden in Sachsen-Anhalt kennenlernen, in dem der Verlag des Buches angesiedelt ist. Das klang doch sehr gut! Long story short: Aus ein paar Wochen wurden Monate, Freundschaften entstanden, ich wuchs langsam in die Dorfgemeinschaft hinein. Nun habe ich einen festen Job im Dorf und befinde mich im Probejahr zur Aufnahme in die sozial-ökologische Genossenschaft Ökodorf e. V.
Sieben Linden soll hier als Beispiel für viele Projekte dienen, in denen Menschen alternative Lebenskonzepte, solidarische Gemeinschaften und vor allem ein deutlich ökologischeres Leben ausprobieren und immer auch versuchen, ihre Erkenntnisse in die Welt zu tragen und zu zeigen: Es geht tatsächlich anders! Sieben Linden ist mit 145 Bewohner*innen und über 170 Hektar Land eines der größten Projekte in Deutschland und kann auf 22 Jahre Ökodorf-Geschichte und Gemeinschaftsbildung zurückschauen. Tatsächlich aber gibt es hunderte, eher sogar tausende Gemeinschaftsprojekte weltweit, je nachdem wie man die Kriterien anlegt.
Ökologie, Ökonomie und Gemeinschaft
Das Leben im Ökodorf Sieben Linden fußt auf drei Säulen, die in enger Verbindung miteinander stehen: Es geht zum einen um die drastische Verkleinerung des persönlichen und gemeinsamen Fußabdrucks (Ökologie), sowie zweitens um ein lokales und nachhaltiges Wirtschaften (solidarische Ökonomie). Und drittens geht es hier tagtäglich darum einen gemeinsamen Weg, eine Gemeinschaft zu entwickeln, in der man nahe, zugewandte Verbindungen ausbildet, in Nachbarschaft und Genossenschaft [1] lebt und große Teile des Lebens teilt, aber gleichzeitig immer auch die Individualität und das persönliche Wohlbefinden an erster Stelle stehen.
Es ist eine vibrierende Form der Lebendigkeit, zusammen mit anderen in einem „common sense“ zu leben, in dem keine verbindlichen Weltanschauungen oder gar Personenkulte das gemeinsame Leben vorgeben und man es trotzdem schafft, sich gemeinsam auf Werte zu einigen („Einheit in der Vielfalt“).
Das sollte man sich nicht allzu romantisch vorstellen: Solche Werte müssen immer wieder aufs Neue aus sich selbst und der aktuellen Bewohner*innenschaft heraus weiterentwickelt werden. Dafür braucht es Raum, Willen, Kommunikation und viel, viel Energie! Und wichtig: Das gemeinsame Wirtschaften und Leben ist dabei Teil eines explizit offenen, transparenten Modellprojektes, das sich nicht als „Parallelwelt“ abkapselt, sondern vielmehr der Gesamtgesellschaft Alternativen aufzeigen möchte und dafür auch viel in Bildung und Öffentlichkeitsarbeit investiert.
Ökologie wird in Sieben Linden also großgeschrieben. Damit eng verbunden ist die Ökonomie, also die Art des Wirtschaftens vor Ort. Das Ziel ist es, in allen Lebensbereichen möglichst solidarisch einen äußerst sparsamen Energie- und Ressourcenverbrauch zu erreichen. Durch im Grunde einfach gehaltene geschlossene Kreisläufe kann viel eingespart werden: So werden beispielsweise Urin und Abwässer in der lokalen Pflanzenkläranlage aufbereitet und auf dem Gelände verrieselt. Die Abfälle aus den Kompost-Toiletten werden in einer großen Anlage anderthalb Jahre lang kompostiert und als hochwertiger Dünger für die Wiederaufforstung und Strauch-Pflanzungen in unserer von Monokulturen gebeutelten Region genutzt.
Alle Häuser werden vorrangig aus Naturmaterialien (Holz, Stroh, Lehm) gebaut, liegen nach Süden ausgerichtet, werden sehr gut gedämmt und arbeiten mit Wärmetauschpumpen. So konnte der Energiebedarf der Gebäude für Wärme um 50 Prozent gegenüber dem Bundesdurchschnitt gesenkt werden. Dazu sind natürlich alle Gebäude mit Solaranlagen bestückt und werden ausschließlich mit Holz aus den eigenen Wäldern beheizt, in denen das Wald-Team stets mindestens so viel aufforstet wie Bäume gefällt werden. Der große eigene Garten ermöglicht es, alle Sieben Lindener*innen und die zahlreichen Seminargäste mit über 70 Prozent eigenem lokalen Bio-Gemüse und -Obst zu ernähren, was wiederum Ressourcen schont, Transportwege vermeidet, Arbeitsplätze bietet und natürlich ein ganz anderes Verhältnis zur Ernährung mit sich bringt.
Mehr als die Hälfte der Bewohner*innen üben ihre Werktätigkeiten direkt im Dorf aus, im Seminar- und Gästebetrieb, in der Hausmeisterei, im Wald-Team, im Garten, als Selbstständige, im Waldkindergarten oder in der Küche, was wiederum alles sehr kurze Wege bedeutet. Insgesamt beträgt die Kilometeranzahl pro Kopf und Jahr aber doch 75 Prozent des Bundesdurchschnitts, vor allem da das Dorf in einer der unbesiedeltsten und abgelegensten Regionen Deutschlands liegt. Es gibt zwar weniger Fahrten, doch diese sind sehr lang. Aber: Trotz der schwachen regionalen Infrastruktur fahren die Dorfbewohner*innen drei Mal so viele Kilometer mit öffentlichen Verkehrsmitteln wie durchschnittliche Bundesbürger*innen. Viele kleine weitere Einsparmöglichkeiten vor Ort (zum Beispiel keine Laternen, Recycling, Verschenke-Ecke, Zukäufe nur in großen Gebinden, vegane/vegetarische Ernährung) führten schlussendlich dazu, dass eine Studie 2014 zu dem Ergebnis kam, dass der durchschnittliche persönliche ökologische Fußabdruck hier nur 27 Prozent des Bundesdurchschnitts beträgt. Das ist natürlich eine unfassbar gute Zahl, die entgegen der weit verbreiteten Annahme nicht zu weniger Lebensqualität führt, sondern zu deutlich mehr. Ehrlicherweise ist diese Zahl angesichts dessen, was den durchschnittlichen Erdenbürger*innen eigentlich zusteht („global footprint“), tatsächlich noch immer zu hoch.
Gemeinschaft bedeutet auch Verpflichtung
Das formale Gemeinschaftsleben in Sieben Linden ist genossenschaftlich und basisdemokratisch organisiert. Jede*r hat also die gleichen Rechte (und Pflichten!), sich einzubringen. Große Entscheidungen werden gemeinschaftlich im Konsens-Prinzip entschieden, kleinere an Räte delegiert, die das Vertrauen aller Genoss*innen genießen. Das eigentliche, alltägliche Leben dreht sich darum, sich gemeinsam auf einen ökologischen und lebensbejahenden Weg zu machen und doch darauf zu achten, den verschiedenen Persönlichkeiten und Kompetenzen genug Raum zu bieten und dabei auch mal Spannungen, Misstöne und Krisen auszuhalten. 2008 wurden gemeinsame Commitments erarbeitet, die auch auf einem großen Schild am Haupthaus angebracht sind und das breite Spektrum von „Einheit in der Vielfalt“ darstellen. Am wichtigsten ist mir persönlich das erste Commitment: „Ich diene dem Leben“. Das bedeutet vor allem: Ich diene ALLEM Leben – werte dabei nicht und schließe erst recht keines aus.
So fand im Sommer 2019 beispielsweise ein Seminar mit dem Titel „Mit queerem Tango das Ökodorf ertanzen“ statt, für 2020 ist eine Fortbildung „Grüne Braune: Wenn Rechtsextreme von Naturschutz reden“ in Kooperation mit FARN geplant. Einige Menschen sind in der Antirassismus-Arbeit, in politischen Netzwerken, in der Geflüchteten-Hilfe oder im Gemeinderat aktiv. Derzeit arbeitet das Netzwerk der Ökodörfer in Deutschland (GEN Deutschland) angesichts des Rechtsrucks an einer klaren Stellungnahme und einer Überarbeitung seiner Statuten, in denen sich klar und deutlich von rechtem Gedankengut, Rassismus und Homophobie abgegrenzt werden soll. Trotzdem, so kritisch muss man an dieser Stelle sein, ist das Bekenntnis zum Leben und zur Vielfalt in den meisten Ökodörfern zwar stets wichtig, das bedeutet aber nicht, dass sich dieses auch schon in der Mitgliederzusammensetzung widerspiegeln würde.
Das durchschnittliche Ökodorf in Deutschland wurde häufig von Menschen gegründet, die einen akademischen Hintergrund haben und dazu einen deutschen Pass besitzen, dasselbe gilt für einen großen Teil der zuzugsinteressierten Menschen. So sind oftmals nur wenige Menschen mit Migrationshintergrund anzutreffen, auch wenn sich dies, so scheint mir, langsam ändert. Ein weiteres grundsätzliches Problem ist der Handwerker*innenmangel, obwohl diese so dringend gebraucht werden. Beide Themen werden in vielen Dörfern und im Ökodorf-Netzwerk thematisiert und es wird nach Wegen und Kommunikationsweisen gesucht, dies zu ändern.
Es sind vor allem die zwischenmenschlichen Verbindungen, dieser große Respekt vor dem Leben und die viele Energie, die stetig in den Gemeinschaftsprozess investiert wird, die mich dazu bewogen haben, in Sieben Linden zu bleiben. Das lokale Wirtschaften, das ökologische Leben, die kleinen Kreisläufe, das sind Punkte, von denen ich denke: In einer nahen, besseren Zukunft müssten diese Dinge ganz selbstverständlich überall so laufen, um dem Klimawandel zu begegnen. Doch ein Zusammendenken von ökologischen und humanistischen Aspekten fordert darüber hinaus einen lebensbejahenden, respektvollen Umgang miteinander, wie er hier in Sieben Linden bereits erprobt und gelebt wird. Und auch hier ist, wie erwähnt, bei weitem nicht alles perfekt: Oft läuft die Realität den sich selbst gesetzten Ansprüchen hinterher. Aber es scheint mir schon mal ein ganz guter Anfang zu sein.
Weiterlesen
Kunze, Iris: Entwicklung der Klimaschutzinitiativen: Ökodorf Sieben Linden. Fallstudienprojekt Projekt COSIMA. Wien, 2016. (online abrufbar unter www.lehmhausen.de/wp-content/uploads/2017/02/Fallstudienbericht_7Linden-TU-Wien.pdf)
Stanellé, Chironya; Kunze, Iris (Hrsg.): 20 Jahre Ökodorf Sieben Linden. Erfahrung, Reflexion und Resümee. Beetzendorf, 2017.
Würfel, Michael (Hrsg.): eurotopia. Verzeichnis von Ökodörfern und Gemeinschaften in Europa. Beetzendorf, 2019.
Jonas Duhme
Der Autor hat in Bielefeld Erziehungswissenschaften und Geschichte studiert. Er ist Mitglied des Fachbeirats der Fachstelle Radikalisierungsprävention und Engagement im Naturschutz (FARN).Der Artikel ist Teil der Broschüre Love Nature. Not Fascism. Demokratischen Umwelt- und Naturschutz gestalten.
[1] Genossenschaft: Eine Genossenschaft ist ein Zusammenschluss von Menschen mit dem Ziel, durch gemeinschaftlichen Geschäftsbetrieb die wirtschaftlichen, sozialen oder kulturellen Interessen der Mitglieder zu fördern. Es gibt zum Beispiel Wohnungsbaugenossenschaften mit dem Ziel, die Mitglieder mit günstigem Wohnraum zu versorgen, oder Energiegenossenschaften, die möglichst umweltfreundlich gewonnene Energie bereitstellen.