Nur wenige Menschen auf der Welt haben eine so enge Beziehung zu Waldelefanten wie die Angehörigen der Baka, eines indigenen Volkes, das seit Generationen vom Jagen und Sammeln im Regenwald des Kongobeckens lebt. Sie unterteilen die Elefanten in mehr als 15 verschiedene Typen je nach Alter, Aussehen, Geschlecht, Charakter, Stimmung und magischer Kraft. Viele Baka glauben, dass sobald sie tot sind, ihre Geister an der Seite des Elefanten wandern, wie die Hirt*innen, die sich um ihre Herde kümmern.
Doch die Baka wissen auch, dass es nicht gut aussieht für die Tiere. Schätzungen zufolge sind zwischen 2002 und 2012 mehr als 60 Prozent der Waldelefanten in Zentralafrika verschwunden; selbst wenn Wilderei heute aufhörte, würde es mindestens hundert Jahre dauern, bis sich der Bestand erholt. Die Baka sagen: „Wir wissen, wann und wo die Wilderer im Wald sind. Aber niemand hört uns zu.“
Wie kann das sein, wenn die Lage so ernst ist?
Um die Gründe zu verstehen, müssen wir einen Blick zurückwerfen. Denn trotz seiner Errungenschaften basiert der heutige Naturschutz auf zwei schwerwiegenden Irrtümern, die ihren Ursprung in den Anfängen der Naturschutzbewegung haben und aus einer eurozentrischen Perspektive entstanden sind. Beide Irrtümer sind eng miteinander verbunden und wir müssen sie endlich über Bord werfen, um heute die artenreichsten Regionen der Erde schützen zu können.
Der erste Irrtum besteht darin, Gebiete wie den Regenwald im Kongobecken als Wildnis anzusehen, die sich unberührt von Menschenhand seit Jahrtausenden entwickelt hat. Denn Wildnis ist nur ein Konstrukt. Neue Untersuchungen des Amazonas- Regenwaldes etwa zeigen, dass indigene Völker einige der berühmtesten „Wildnis-Gebiete“ über Tausende von Jahren verändert haben: durch den Anbau von Pflanzen, durch Rodung, Brände, Gärten und durch unzählige weitere Methoden. Sie schufen erst das, was wir heute als „reine Natur“ betrachten. Was inzwischen für zumindest einige Wissenschaftler*innen offensichtlich wird, war Naturschützer*innen lange verborgen geblieben. Sie sahen in dem Land eine unberührte Wildnis, weil es nicht ihrer europäischen Vorstellung von einer industrie- und menschengeprägten Landschaft entsprach. Hinzu kam, dass die indigenen Bewohner*innen dieser Gebiete lange Zeit als kaum menschlich wahrgenommen wurden. Keines ihrer Gebiete war unbewohnt, aber der Rassismus des 19. Jahrhunderts bedeutete, dass das Einwirken indigener Völker nicht als menschliches Tun erkannt wurde, weil sie oft eher als Tiere gesehen wurden und ihnen generell keine geschichtliche Entwicklung zugesprochen wurde.
Bis zu 14 Millionen Menschen wurden weltweit für den Naturschutz von ihrem Land vertrieben
Wildnis ist noch heute ein mächtiges Bild in unseren Köpfen, das wir – wenn wir ehrlich sind – vor allem in den Wäldern und Wüsten Asiens, Afrikas und Amerikas zeichnen. Genau dort, wo Kolonist*innen blind waren für die Einflüsse und das Wirken nicht-industrialisierter Gesellschaften. Ihr Irrtum ist also noch immer unserer.
So können wir nicht verstehen, dass indigene Völker keine Eindringlinge sind, sondern seit Jahrhunderten in und mit ihrer Umgebung leben. Es ist unmöglich zu sagen wie viele, aber Schätzungen zufolge wurden bis heute bis zu 14 Millionen Menschen weltweit für den Naturschutz von ihrem Land vertrieben, viele davon Indigene. Auch die Baka mussten große Teile ihres angestammten Landes verlassen, um Platz für Schutzgebiete zu machen. Der Landverlust ist für sie ein Desaster, das ihnen ihre Lebensgrundlage geraubt hat. Sollten sie es wagen, diese Gebiete zu betreten, um Gräber ihrer Ahnen und religiöse Stätten zu besuchen oder zu jagen und zu sammeln – wie sie es seit jeher und nachhaltig getan haben – drohen ihnen hohe Strafen und sogar Folter.
Und es geht noch schlimmer, wie etwa der Tod des Teenagers Christian Nakulire vom Volk der Batwa zeigt, der Ende 2017 im Kongobecken beim Sammeln von Heilpflanzen für seinen kleinen Bruder von Parkwächtern getötet wurde. Heute sind viele Schutzgebiete in Afrika und Asien wahre Festungen, die darauf angelegt sind, alle Menschen – mit der Ausnahme zahlender Urlauber*innen – aus der „Wildnis“ fernzuhalten. Maßnahmen wie „Shoot to kill“ [Schießen, um zu töten] sollen angeblich auf Wilderer abzielen, die gefährdete Tierarten bedrohen. Doch auch wenn Wilderei ein massives und ernstes Problem ist, sollten wir nicht vergessen, dass es in Europa undenkbar wäre, das Leben eines Elefanten über das eines vermeintlichen Wilderers zu erheben. Man stelle sich vor, dass jemand, der im Verdacht steht, einen Braunbären getötet zu haben, auf der Stelle von staatlich finanzierten Wildhüter*innen erschossen würde.
Menschen mit universitärer Ausbildung sind nicht automatisch die besseren Naturschützer*innen
Der zweite, eng verknüpfte Irrtum, besteht in der Annahme, dass Naturschutz hierarchisch organisiert sein sollte. Menschen mit guter universitärer Ausbildung, meist aus westlichen Industrienationen, sollten aufgrund ihres wissenschaftlichen Fachwissens, ihrer technologischen Möglichkeiten und ihrer Voraussicht an der Spitze dieser Hierarchie stehen. Alle anderen, so die Kehrseite, müssten diese Gebiete verlassen oder ihre Nutzung einschränken, um die Zerstörung (aus Unwissenheit oder aufgrund kurzsichtiger persönlicher Interessen) zu verhindern. Einschließlich jener, denen die Gebiete tatsächlich gehören und die dort seit Generationen leben.
Die Annahme, dass Naturschützer*innen aus Industrienationen die Natur besser schützen können als indigene Bewohner*innen, geht ebenfalls auf den Ursprung der Bewegung zurück. Berüchtigt ist heute das Zitat des US-Präsidenten Theodore Roosevelt, der mit der Gründung mehrerer Nationalparks den Naturschutz entscheidend prägte: „Es ist von unschätzbarem Wert, dass Amerika, Australien und Sibirien aus den Händen ihrer ursprünglichen roten, schwarzen und gelben Eigentümer genommen werden, um das Erbe der dominanten Weltrasse zu werden.“ Diese Sicht ist auf eine falsche Auslegung des Darwinismus zurückzuführen, der mit Darwins Buch „Die Entstehung der Arten“ damals Schlagzeilen machte. Naturschützer*innen wollen heute natürlich nicht mehr die „dominante Weltrasse“ retten, jedoch behaupten sie, das Erbe der Menschheit für uns alle zu sichern.
Doch warum sollten Naturschützer*innen aus Deutschland oder den USA mehr über den Regenwald im Kongobecken wissen als die lokale Bevölkerung? Die Baka verwalten ihr Land seit Jahrhunderten. Durch ihre wechselnden Camps im Wald befördern sie beispielsweise ein Mosaik von Pflanzen und die Ausbreitung von wildem Yam – eine der Lieblingsspeisen der Waldelefanten. Sie erhalten die Natur auf eine Art und Weise, die für andere kaum zu verstehen oder zu erlernen ist. Dies sind Fakten, die industrialisierte Gesellschaften über Generationen übersehen oder mit dem Stempel des „edlen Wilden“ herabgewürdigt haben. Auch hier verstehen wir erst langsam unseren Irrtum.
„Naturschützer*innen scheinen zu glauben, dass nur Außenstehende sich um die Natur kümmern wollen und sie effektiv schützen können. Aber für mich macht das keinen Sinn. (…) Wer will sich mehr um die Natur kümmern, als die Leute, die sie ihr Zuhause nennen und für ihr Überleben auf sie angewiesen sind? Wer versteht besser, wie man sich um die Natur kümmert als jemand, der jeden Tag seines Lebens durch den Wald läuft und jede Pflanze, jeden Baum und jedes Tier kennt?“, erklärte kürzlich Charles Jones Nsonkali von der Baka-Organisation OKANI.
Viele indigene Völker verbinden mit Naturschutzprojekten oft Gewalt, Hunger und Armut
Dass den Baka unter diesen Umständen jemand ernsthaft zuhört, was sie über ihren Wald zu sagen haben und wie sie ihn verwalten würden, davon können sie nur träumen. Viele indigene Völker sehen daher heute in Naturschutzprojekten oft nur noch Gewalt, Hunger, Armut und kommen ein weiteres Mal zu der Überzeugung, dass das Leben der Tiere mehr wert ist als das ihrer Kinder.
Doch wenn dieses Naturschutz-Model sich nicht ändert, wird es selbst nicht überleben. Der ranghohe Naturschützer Rohit Singh aus Indien sagte: „Egal, wie effektiv deine Ranger sind, wenn die Menschen um den Nationalpark herum dich hassen, kannst du den Park nicht schützen.“ Schutzgebiete, die wie Festungen funktionieren, wurden errichtet, um zu scheitern. Sie werden übermannt von der gleichen Ablehnung, die auch den Rückzug vieler Kolonialmächte erreicht hat. So macht Naturschutz die besten und wichtigsten Verbündeten – die lokale und indigene Bevölkerung – zu seinen Feinden.
Naturschützer*innen müssen beginnen, ihre Verpflichtungen gegenüber indigenen Völkern wie den Baka zu erfüllen. Dazu zählt auch, Projekten eine Absage zu erteilen, die sie und ihre Rechte verletzen könnten. Wir müssen der lokalen Bevölkerung auf Augenhöhe und fair begegnen und ihr umfangreiches Wissen über ihre Umwelt anerkennen. Naturschützer*innen müssen ihnen Hilfe anbieten, mit der sie ihr Land unter eigener Kontrolle halten können. Und auch wenn viele Organisationen behaupten, sie würden dies machen, zeigen unsere Nachforschungen doch, dass sie es noch immer nicht tun. Wohl auch, weil sie es bisher versäumt haben, ihre Irrtümer anzuerkennen.
Linda Poppe
Die Autorin ist Koordinatorin bei Survival International in Berlin und arbeitet unter anderem am Thema Naturschutz und Rechte indigener Völker. Survival setzt sich für einen neuen Ansatz im Naturschutz ein, der indigene Völker in den Mittelpunkt stellt.
Der Artikel ist Teil der Handreichung "Aspekte Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit im Natur- und Umweltschutz".
Literatur
Dowie, Mark (2009): Conservation Refugees. The Hundred-Year Conflict between Global Conservation and Native Peoples. Cambridge, Mass.
Gissibl, Bernhard: Die Mythen der Serengeti: Naturbilder, Naturpolitik und die Ambivalenz westlicher Um-Weltbürgerschaft in Ostafrika. Online abrufbar http://www.academia.edu/2564869/Die_Mythen_der_Serengeti_Naturbilder_Nat....
Gissibl, Bernhard (2016): The Nature of German Imperialism. Conservation and the Politics of Wildlife in Colonial East Africa. New York/Oxford.
Mbaira, John/Ogada, Mordecai (2016): The Big Conservation Lie. Seattle.