Wie der australische Philosoph Peter Singer „Euthanasie“ mit „Tierrechten“ und „Anti-Speziesismus“ verbindet
Die „Tötung eines behinderten Säuglings“, behauptet der australische Philosoph Peter Singer sei „nicht moralisch gleichbedeutend mit der Tötung einer Person. Sehr oft ist sie überhaupt kein Unrecht.“ [1] Thesen wie diese haben Singer zu einer höchst umstrittenen öffentlichen Figur gemacht, insbesondere in Deutschland, aber auch in anderen Ländern. Vor rund 30 Jahren protestierten behindertenpolitische und linke Gruppen in der Bundesrepublik gegen seine Auftritte sowie dagegen, die Tötung behinderter Menschen in einen legitimen akademischen Diskussionsgegenstand zu verwandeln. Anlässlich eines Symposiums in Marburg im Jahr 1989, zu dem Singer eingeladen war, schrieb Franz Christoph, ein Protagonist der damaligen „Krüppelbewegung“: „Eine Veranstaltung, die sich mit dem Lebensrecht neugeborener Frauen oder Ausländer beschäftigen wollte, hätte – berechtigterweise – einen öffentlichen Proteststurm zur Folge und würde als Universitätsthema mit der Intervention der zuständigen Minister rechnen müssen. Und auch die Familienministerin in Bonn würde sich hüten, eine Schirmherrschaft zu übernehmen, wenn es nicht um geistig Behinderte ginge.“ [2]
Bis in die 1990er-Jahre fanden Singers Thesen zur „Euthanasie“ Unterstützung unter anderem von dem Elternverein „Lebenshilfe“ und der Redaktion der Emma. Mittlerweile hat das Interesse nachgelassen. Aber Singer ist nach wie vor aktiv und hat eine Gefolgschaft: 2015 wurde in Berlin erstmals der „Peter-Singer-Preis für Strategien zur Tierleidminderung“ vergeben. Erster Preisträger ist der Namensgeber selbst.
Gegen die Verleihung wurde abermals protestiert. [3] Diejenigen, die Singer auch heute noch verteidigen, leugnen drei wichtige Sachverhalte: Erstens behaupten sie, Singer vertrete gar keine Forderungen nach „Euthanasie“, zumindest nicht in der Form, wie ihm dies in böswilliger Absicht unterstellt werde. Singer selbst hat sich wiederholt darüber beklagt, Zitate von ihm würden sinnentstellend „aus dem Zusammenhang“ gerissen. Manche seiner Anhänger*innen glauben zweitens, sie könnten den „Tierrechtler“ vom „Euthanasie“-Befürworter Singer trennen. Sie wollen nicht wahrhaben, dass Singers Kritik an „Speziesismus“ und seine Forderung, die Tötung behinderter Menschen unter bestimmten Voraussetzungen zu legalisieren, Teil einer zusammenhängenden Argumentation sind. Drittens führen sie an, Singers Thesen beruhten wesentlich auf Mitgefühl. Dabei ignorieren sie anderslautende Aussagen sowie den Umstand, dass man von zumindest latenten „Todeswünschen“ gegenüber behinderten Menschen in der Gesellschaft ausgehen muss.
„Nicht weiter zur Last fallen“
Singers Hauptwerk ist die erstmals 1979 erschienene „Praktische Ethik“. Darin unterscheidet der Autor zwischen „Personen“ einerseits und menschlichen beziehungsweise nichtmenschlichen „Wesen“ andererseits, denen der Personenstatus nicht zukommen soll. Als Person bezeichnet er ein „rationales und selbstbewusstes Wesen“ [4], das der Menschheit oder einer anderen Spezies angehören kann. Nicht alle Menschen sind für Singer Personen, „schwer geistesgestörte Menschen“ [5] oder „missgebildete Säuglinge“ etwa gehören für ihn nicht dazu. [6]
Personen schreibt er einen höheren moralischen Status zu als den „Wesen“, die für ihn keine Personen sind. Er geht sogar noch weiter, wenn er schreibt: „Kein Säugling – mag er nun missgebildet sein oder nicht – hat in gleichem Maße Anspruch auf das Leben wie Wesen, die fähig sind, sich selbst als distinkte Entitäten zu sehen, die in der Zeit existieren.“ [7]
Singer unterscheidet ferner zwischen „freiwilliger“, „unfreiwilliger“ und „nichtfreiwilliger“ „Euthanasie“. Im Gespräch mit der Neuen Zürcher Zeitung (25.5.2015) befürwortet er „freiwillige Euthanasie“, also „aktive Sterbehilfe“ in einer unbestimmt großen Zahl von Situationen und Fällen: „Man sollte nicht unheilbar krank sein müssen, um Hilfe beim Suizid zu erhalten. Wer sein Leben nicht mehr für lebenswert hält (...), sollte Zugang bekommen.“ Auf die Frage der Interviewer, ob damit nicht Druck auf alte Menschen entstehen könne, sich das Leben zu nehmen, antwortet er: „Empfindet sich jemand als Belastung für seine Familie, ist es nicht unbedingt unvernünftig, dass er sein Leben beendet. Wenn seine Lebensqualität eher schlecht ist und er sieht, wie seine Tochter viel Zeit aufwendet, um sich um ihn zu kümmern, und dabei ihre Karriere vernachlässigt, dann ist es vernünftig, ihr nicht weiter zur Last fallen zu wollen.“ Die Tötung eines Menschen gegen dessen erklärten Willen, also „unfreiwillige Euthanasie“, verurteilt der Philosoph, obwohl er auch hier eine Einschränkung diskutiert. Zwar sei denkbar, dass eine Person „nicht erkennt, welche Agonie ihr in der Zukunft bevorsteht ...“; doch solchen Fällen begegne man nicht in der Wirklichkeit. [8]
„Some infants should be killed“
Anlass für die Proteste der Behindertenbewegung war und ist Singers Rechtfertigung der „nichtfreiwilligen Euthanasie“, bei der unterstellt wird, dass „ein menschliches Wesen nicht fähig ist, die Entscheidung zwischen Leben und Tod zu verstehen“. [9] Der Einfachheit halber, so Singer, konzentriere er sich auf Kleinkinder, doch seine Aussagen ließen sich „auch auf ältere Kinder oder Erwachsene anwenden (...), die auf der geistigen Reifestufe eines Kleinkindes“ verharrten; die Tötung „missgebildeter Säuglinge“ könne „nicht gleichgesetzt werden mit dem Töten normaler menschlicher Wesen“ [10], denen Singer abspricht, „Personen“ zu sein. Es sei besser, ein Kind zu töten, wenn sein Leben „so elend sein wird, dass es nicht lebenswert ist“ [11] oder wenn es eine „Bedrohung“ ist „für das Glück der Eltern und anderer Kinder, die sie vielleicht noch bekommen werden“ [12].
Singer zeichnet ein abschreckendes Bild von Beeinträchtigungen, die mit Spina bifida oder dem Down-Syndrom einhergehen können. Diesem Bild liegen offensichtlich seine persönlichen Wertungen zugrunde, die er aber nicht als solche thematisiert; vielmehr beansprucht er für sich den „Standpunkt des unparteiischen Beobachters“. [13] Auch die Tötung eines Säuglings mit Hämophilie, der „Bluterkrankheit“, hält er für gerechtfertigt, wenn niemand das Kind adoptiere und „der Tod eines geschädigten Säuglings zur Geburt eines anderen Kindes mit besseren Aussichten auf ein glückliches Leben“ führe und dadurch die „Gesamtsumme des Glücks größer“ [14] werde.
Es kann also kein Zweifel darüber bestehen, dass Singer dafür plädiert, die Tötung behinderter Kinder in einer großen Zahl von Fällen zu legalisieren. Besonders pointiert hat er seine Ansicht in einem gemeinsam mit Helga Kuhse verfassten Buch formuliert: „We think that some infants with severe disabilities should be killed.“ Für die deutsche Ausgabe haben Autor und Autorin den Satz ein wenig relativiert: „Wir sind der Meinung, dass es unter bestimmten Umständen ethisch gerechtfertigt ist, das Leben mancher schwerstbehinderter Neugeborener zu beenden.“ [15]
Derartige Ansichten sind offensichtlich unvereinbar mit den Menschenrechten oder überhaupt geltendem Recht und jeglicher Art von Humanismus. Von der nazistischen „Euthanasie“ unterscheidet sich Singers Konzeption durch die Begründung, durch den Kreis derjenigen, deren Leben als „lebensunwert“ gilt, und durch die Entscheidungskompetenz, die bei Singer nicht dem Staat, sondern den Eltern zufallen soll. Obwohl er diese Unterschiede betont, scheint er in den Gemeinsamkeiten kein Problem zu sehen: „Die Nazis haben fürchterliche Verbrechen begangen; aber das bedeutet nicht, dass alles, was die Nazis taten, fürchterlich war. Wir können die Euthanasie nicht nur deshalb verdammen, weil die Nazis sie durchgeführt haben (...).“ [16] Zur Verteidigung Singers gegen Kritik wird immer wieder angeführt, dass er jüdischer Herkunft ist und drei seiner Großeltern von den Nazis ermordet wurden. Dieser Umstand ändert allerdings nichts daran, dass sein Verhältnis zur nazistischen „Euthanasie“ widersprüchlich ist. Er glaubt, dass sein Hintergrund eine „gewisse Barmherzigkeit gegenüber Leiden gefördert“ habe (FAZ, 24.7.2011). Dazu passt allerdings nicht, dass sich ein großer Teil seines Lebenswerks um die Tötung von Menschen dreht, deren Eigenschaften sie auch zu potenziellen Opfern des nazistischen Massenmords gemacht hätte.
Irreführender „Speziesismus“-Begriff
Singer stellt einen Zusammenhang her zwischen der Forderung nach „Euthanasie“ und jener nach „Tierrechten“. „Wenn wir einen Unterschied zwischen Tieren und diesen Menschen machen“ – damit sind „Kleinkinder und geistig behinderte Kinder“ gemeint –, so geschehe dies, weil Menschen die Angehörigen der eigenen Art „in moralisch unvertretbarer Weise bevorzugen.“ [17] Seien Forscher*innen, die Tierexperimente durchführen, nicht bereit, auch „Menschen mit schwerwiegenden, unheilbaren Hirnschäden“ zu verwenden, dann sei dies „eine Diskriminierung allein auf Grundlage der Gattung“ [18], also „Speziesismus“. Ähnliche Ansichten hat Singer bereits in seinem Buch „Animal Liberation“ von 1975 vertreten, und später radikalisiert: Im Falle eines Feuers dürfe man „nicht unendlich viele Tiere verbrennen lassen, um das Leben eines Kindes zu retten.“ [19] Er beabsichtige, „den Status der Tiere zu heben, nicht aber, den der Menschen zu senken“ [20], behauptet der Ethiker. Das ist offensichtlich unzutreffend angesichts der Tatsache, dass er gegen das absolute Verbot anschreibt, (beeinträchtigte) Menschen zu töten.
Es gibt „tierrechtliche“ und „anti-speziesistische“ Positionen, die nicht mit denen von Singer in eins gesetzt werden können. [21] Trotzdem ist der von ihm zwar nicht geprägte, aber doch popularisierte Terminus des „Speziesismus“ grundsätzlich durch eine irreführende Analogie zu Rassismus belastet; er unterminiert die Gleichheit und Würde aller Menschen, indem er die moralisch bedeutsame Besonderheit von Menschen leugnet und deren Lebensrecht an bestimmte Eigenschaften knüpft. Wer grundsätzlich andere Positionen vertritt, sollte den Begriff nicht verwenden. Stellt man die Leidens- und Denkfähigkeit von Tieren ins Zentrum der ethischen Debatte, dann lenkt man außerdem tendenziell von dem menschengemachten großen Artensterben ab, das die Existenz der Menschheit selbst bedroht. Seit 1970 haben sich die Populationen von Vögeln, Fischen und Reptilien um durchschnittlich 60 Prozent reduziert, so ein WWF-Bericht von 2018. [22] Das Sterben dieser Tiere ist weniger ein Problem wegen deren Leidens- oder Denkfähigkeit, sondern deshalb, weil es das ökologische Gleichgewicht und – wie im Fall der Fische – Nahrungsketten gefährdet, an denen auch der Mensch teilhat.
Behindertenfeindlichkeit und Angst vor Beeinträchtigung
Offen blieb bisher die Frage, was Singer und seine Gefolgschaft zu ihren extrem behindertenfeindlichen Auffassungen veranlasst. In seinen Publikationen bekundet er „Mitgefühl“ und zeigt sich besorgt um das „Glück“ von Familien, das er fälschlicherweise für voraussagbar und planbar hält. Die „reichen Nationen“ sollten „viel mehr tun“, um „behinderten Menschen ein erfülltes, lebenswertes Leben zu ermöglichen“; allerdings dürften Mittel für Menschen, die „keine Personen“ seien, nicht an anderer Stelle fehlen. [23] Die „praktische Ethik“ setzt nicht nur Menschen und Tiere zueinander in Konkurrenz um das Recht auf ein (gutes) Leben, sondern auch Menschen in unterschiedlichen Erdteilen. Als Gast einer Talkshow plädierte der Australier indirekt dafür, das Geld für die Ausbildung von Blindenhunden zu kürzen und es für die Prävention von Blindheit in den sogenannten Entwicklungsländern auszugeben. [24] In einem Radiointerview sprach er sich dagegen aus, dass seine „Versicherungsbeiträge erhöht werden, damit Kinder ohne Aussicht auf Lebensqualität teure Behandlungen erhalten“ [25]. Gegenüber der NZZ erklärte er: „Hätten meine Eltern ein Kind wie mich, aber mit guten Augen bekommen, wäre das besser gewesen.“
Aus solchen Äußerungen sprechen offensichtlich weder Mitgefühl noch die Sorge um das Glück von Menschen. Vielmehr zeigt sich darin ein verstörender Rigorismus, der sich auch gegen geringfügige Abweichungen von einer imaginierten Norm wendet, und ein Gesellschaftsbild, das Konkurrenz betont und die Knappheit von Mitteln unhinterfragt als gegeben voraussetzt. Es drängt sich die Frage auf, welches Motiv Singer zu der Vorstellung führt, es „wäre (...) besser gewesen“, seine Eltern hätten „ein Kind wie“ ihn, „aber mit guten Augen bekommen“. Man könnte dies als Hinweis auf eine tiefsitzende Unsicherheit interpretieren, wenngleich diese Deutung rein spekulativ ist; denkbar wäre auch, dass Singer sich mit Kalkül provozierend äußert, um die öffentliche Aufmerksamkeit für sein Werk aufrecht zu erhalten. Die Angst vor möglichen eigenen Beeinträchtigungen kommt in diesem Werk so gut wie nicht vor, obwohl sie relevant sein dürfte für die feindselige Bewertung behinderter Menschen. Sie passt in eine sozial polarisierte Gesellschaft, die intolerant ist gegenüber vermeintlichen Schwächen und die diese Intoleranz möglicherweise mit Inklusionsrhetorik maskiert. Singers Philosophie appelliert an die Idee, sich eines Problems zu entledigen, indem man die davon Betroffenen beseitigt. Insofern wäre sie die extreme Ausformung eines allgemeinen Phänomens.
Michael Zander
Der Autor vertritt derzeit eine Professur im Fach Rehabilitationspsychologie an der Hochschule Magdeburg-Stendal.
Der Artikel ist Teil der Handreichung "Aspekte Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit im Natur- und Umweltschutz".
[1] P. Singer (1984): Praktische Ethik. Stuttgart. S. 188.
[2] F. Christoph (1989): (K)ein Diskurs über ‚lebensunwertes Leben‘. Behinderte und ‚Euthanasie‘-Debatte. Der Spiegel, 5.6.1989.
[3] M. Zander (2015): Eine „praktische Ethik“ für heute? Gen-ethischer Informationsdienst, 230, S. 37.
[4] Praktische Ethik, S. 106.
[5] Ebd., S. 135.
[6] Ebd., S. 179.
[7] Praktische Ethik, S. 180.
[8] Ebd., S. 200.
[9] Ebd., S. 177f.
[10] Ebd., S. 179.
[11] Ebd., S. 181f.
[12] Ebd., S.180.
[13] Ebd., S. 22.
[14] Praktische Ethik, S. 183.
[15] H. Kuhse, P. Singer (1993): Muss dieses Kind am Leben bleiben? Das Problem schwerstgeschädigter Neugeborener. Erlangen. S. 25.
[16] Praktische Ethik, S. 210.
[17] Ebd., S. 76.
[18] Ebd., S. 84.
[19] NZZ, 25.5.2015.
[20] Praktische Ethik, S. 96.
[21] Siehe z.B. http://asatue.blogsport.de/2010/07/27/ein-gespenst-geht-um-das-gespenst-...
[22] https://c402277.ssl.cf1.rackcdn.com/publications/1187/files/original/LPR...
[23] Kuhse/Singer, S. 26 und 246.
[24] The Sydney Morning Herald, 5.5.2015.
[25] National Council on Disability, https://ncd.gov/newsroom/04232015; Übersetzung des Zitats von mir.