Die Initiative Reclaim The Forest wurde im Sommer 2020 gegründet und macht Naturerholung zugänglich für Schwarze Menschen und Menschen of Color. Denn Naturschutzverbände haben zwar häufig einen liberalen, progressiven Anspruch, aber mit der Umsetzung hapert es. Noch immer sind Wandervereine und Outdoorsport insbesondere ein Wohlfühlort für (ältere) weiße Deutsche. Reclaim the Forest will das ändern.
Rassismus als gesellschaftlicher Normalzustand – nicht nur am „rechten Rand“
Das Leben von Menschen, an denen sich Rassist*innen stören, ist äußerst anstrengend. Der Kern des Problems ist, dass es in Deutschland eine mehr oder weniger allgemein durchgesetzte Vorstellung davon gibt, was „normal“ ist, wer die sogenannte Leitkultur bestimmt, wer im Land „verwurzelt“ ist und wer sich von angeblichen „Bio-Deutschen“ durch eine angebliche abweichende biologische Wesenseigenschaft unterscheidet.
Von Rassismus betroffen zu sein, heißt dementsprechend, dass man in diese Vorstellung von Normalität und Dazugehörigkeit nicht hineinpasst. Man stellt eine Art Fremdkörper in der Gesellschaft dar. Dieses Urteil betrifft den ganzen Menschen, die komplette Existenz, die unter einen Vorbehalt gestellt wird. Wie sich das anfühlt, wissen Muslim*innen, die seit Jahrzehnten Debatten darüber verfolgen müssen, ob sie im Land überhaupt etwas zu suchen haben oder ob ihre Existenz mit „Deutschland“ völlig unvereinbar ist.
Viele von Rassismus Betroffene sind nicht nur Anfeindungen im Alltag ausgesetzt, sondern auch rechtlich deutlich schlechter gestellt als die „normalen“ Mitglieder der „Mehrheitsgesellschaft“. Aber auch diejenigen, die einen deutschen Pass haben, müssen sich in allen Lebenssituationen damit herumschlagen, dass sie von einem großen Teil der Gesellschaft als „Andere“ wahrgenommen werden.
Eine Konsequenz davon sind explizite Ausschlüsse von angeblich Nicht-Dazugehörigen – beispielsweise durch militante Neonazis, aber auch Vermieter*innen, die aufpassen, dass keine nicht-deutschen Familien in ihre Immobilien ziehen oder Eltern, die ihre Kinder täglich quer durch die Stadt zur „freien Schule“ fahren, weil sie nicht wollen, dass ihre Sprösslinge auf die lokale Einzugsschule im sogenannten „Problemkiez“ gehen. Diese expliziten Ausschlüsse und Bedrohungen von Leib und Leben müssen die Betroffenen immer mitdenken und einkalkulieren.
Eine andere Konsequenz sind implizite Hürden, die ohne direkte Ausschlüsse auskommen. Wenn rassistische Abwehrhaltungen und Vorurteile Menschen den Zugang zur höheren Bildung und besser bezahlten Jobs erschweren, dann ist klar, dass die Teilnahme an finanziell aufwändigeren Hobbies ebenfalls verwehrt ist. Diese Art von strukturellen Ausschlüssen wird von weißen Deutschen häufig überhaupt nicht gesehen. Rassismus ist für viele nur dann vorhanden, wenn Nazis mit Baseballschlägern auf die Jagd gehen.
Weiße Standards und fehlende Antennen im Natursport und Outdoorbereich
Reclaim The Forest hat sich gegründet, weil unsere Mitglieder und unsere Zielgruppe es im Outdoorbereich mit dem ganzen Spektrum an negativen Folgen von Rassismus zu tun haben. In ländlichen Gebieten gibt es mehr Neonazi-Strukturen und weniger solidarische Menschen, die eine*n unterstützen. Auch ist der Anteil an Wähler*innen rechtsradikaler Parteien oft höher als in den großen Städten. Dazu kommt, dass man als „Andere*r“ häufig mit einer Mischung aus Skepsis und Feindseligkeit beäugt wird. Bestimmte Regionen in Ostdeutschland, wie beispielsweise die Sächsische Schweiz oder den Spreewald, müssen wir meiden.
Zudem gelten Natursport und Naturerholung als typisch weiß-deutsche Beschäftigungen. Aus dieser verkehrten Annahme folgt, dass viele Menschen und Organisationen, die im Themenfeld arbeiten, viele implizite Teilnahmehürden aufstellen. Diesen begegnen wir viel häufiger als Neonazis und offener Gewalt. Weiße Deutsche werden als die „normale“ Zielgruppe betrachtet, um die sich alles dreht. Andere Gruppen werden als netter Zusatz behandelt, um die man sich eventuell – und oft halbherzig – ebenfalls kümmert. Das gilt natürlich nur, wenn dabei die weiß-deutsche Hauptzielgruppe und die weiß-deutschen Entscheider*innen damit einverstanden sind. „Diversität“, also die bunte Beigabe zur dominanten, weißen Normalität, wird als Geschenk an die „Anderen“ verstanden. Sich mit Rassismus, Sexismus, Queerfeindlichkeit, Antisemitismus und Islamophobie auseinanderzusetzen, ist leider keine Selbstverständlichkeit.
In den vergangenen Monaten wurde dieser Missstand durch eine Aktion des deutschen Ablegers von The North Face verdeutlicht. Der Outdoorausstatter hatte seine Pläne veröffentlicht, Initiativen finanziell zu unterstützen, die Naturerlebnisse für von Ausschlüssen betroffene Zielgruppen ermöglichen. Allein der Hinweis darauf, dass es diese Ausschlüsse gibt und dass diese für die Betroffenen ein Problem darstellen, hat mehrere Hundert Rassist*innen völlig auf die Palme gebracht. Die Flut von rassistischen Kommentaren zeigte auf, dass bei der millionenschweren Firma sich niemand über ein Bildungs- oder wenigstens Moderationskonzept Gedanken gemacht hat. Stattdessen wurden irgendwann kurzerhand bei den relevanten Beiträgen die Instagram-Kommentarfunktionen abgeschaltet. Der rechte Mob zog daraufhin vor allem auf das Instagram-Profil von Emilia Zensile Roig weiter. Selbst die Bild-Zeitung nahm sich des Themas an. Selbstverständlich um die Probleme der Betroffenen lächerlich zu machen und als neue Front eines vermeintlichen „identitätspolitischen Kulturkampfs“ zu bezeichnen.
Ironischerweise hat gerade die heftige Reaktion weißer Wanderfreund*innen gezeigt, wie sehr sie das Naturerlebnis als ihre Domäne verteidigen wollen. Dass von Rassismus Betroffene ihre Perspektiven und Standpunkte im Themenfeld äußern, nahmen sie als Angriff war, gegen den sie sich mit einem heftigen Gegenangriff verteidigten.
Diese Ereigniskette zeigt, dass sich nicht auf eine solidarische Reaktion nach rassistischen Vorfällen verlassen werden kann. Wir stehen in den weiß-dominierten Verbänden, Gruppen und Veranstaltungen als exotische Sonderlinge da, deren Anwesenheit auf Gastfreundlichkeit beruht, die jederzeit widerrufen werden kann.
Reclaim the Forest
Um einen Umgang mit all diesen unangenehmen Sachen zu finden, haben wir uns zusammengeschlossen. Durch den weit verbreiteten Rassismus haben wir die Erholung und das Abgeschiedensein von verletzenden Situationen bitter nötig. In unserer Arbeit richten wir den Blick komplett auf die eigenen Communities. Dadurch entfallen anstrengende Diskussionen und der Zwang, Menschen, die sich nicht mit Rassismus auseinandersetzen wollen, zu bilden, nur um irgendwo mitmachen zu können.
Das Feedback aus den Communities ist überwältigend. Uns wird immer wieder gesagt, wie gern Leute eigentlich in die Natur wollen, aber davon abgehalten werden. Manche haben Angst oder zumindest Sorge, andere finden keine Gleichgesinnten und viele kennen sich einfach noch nicht so gut aus.
Bei unseren Ausflügen kommt es natürlich auch zu unangenehmen Situationen. Auch und gerade als Gruppe werden wir unverschämt angestarrt oder es wird angenommen, dass wir kein Deutsch sprechen, und es kam auch schon vor, dass Teilnehmer*innen bei der Anreise rassistische Sprüche abgekriegt haben. Es ist aber zumindest einfacher, solche Sachen als Gruppe solidarisch aufzufangen und selbstbewusster auf diesen Mist zu reagieren. Darüber hinaus ist es auch einfach empowernd und schön, sich gemeinsam Räume zu erschließen, die einem vorher verschlossen waren.
Zusätzlich zu den gemeinsamen Ausflügen betreiben wir ein Wiki, um Orte, Dienstleister*innen und Unterkünfte zu sammeln. Diese werden von Community-Mitgliedern empfohlen und detailliert beschrieben. So gibt es mehr und mehr Möglichkeiten, in der Natur etwas zu unternehmen, ohne ins Blaue hinein irgendwo hinzufahren und eventuell schlechte Erfahrungen zu machen. Der Zugang zu Informationen, die von anderen Betroffenen zusammengestellt wurden, gibt mehr Sicherheit.
Ein weiteres wichtiges Arbeitsfeld ist das Ermöglichen von Naturbildung in einem rassismuskritischen Setting. Einerseits gibt es in unseren Communities einen riesigen Schatz an Naturkenntnissen, aus dem wir schöpfen können. Wandern, bergsteigen, Pilze und Kräuter sammeln, all das hat in vielen Herkunftsländern der ersten Einwander*innengeneration große Tradition. Das Bild einer „Expert*in“ in der deutschen Gesellschaft ist jedoch sehr speziell. Es braucht Uni-Abschlüsse und zertifizierte Ausbildungen. Dazu haben viele Menschen mit Migrationsgeschichte keinen Zugang, so dass sich viele gar nicht trauen, ihr Wissen in Workshops weiterzugeben. Das wollen wir ändern, indem wir organisatorische Unterstützung leisten und Mut spenden.
Wir haben uns eine Menge vorgenommen. Die Probleme, die wir bearbeiten, sind weit verbreitet und es gibt kaum weitere Organisationen, die sich mit ihnen beschäftigen. Damit ist klar, dass wir mit dem klassischen NGO-Ansatz nicht weit kommen würden. Wir arbeiten nicht als eine kleine Gruppe von Expert*innen, die mit ihren Methoden Communities auf den Leib rücken. Im Gegenteil, wir wollen den Anstoß für eine breite, in unseren Communities verwurzelte Graswurzelbewegung geben. Wir leben von freiwilligem Engagement und gegenseitiger Solidarität.
In diesem Sinne: Falls du, liebe*r Leser*in, von Rassismus betroffen bist und Interesse am Mitmachen hast, schreibe uns auf jeden Fall an. Wir freuen uns über jede helfende Hand und auf die gemeinsamen Ausflüge miteinander!
Let‘s reclaim the forest!